Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Do it youself | Januar 2010
Unterschichtgör
von Susanne Ruitenberg

Dustin schloss die Wohnungstür auf. Merkwürdig, es roch nicht nach Essen, wie sonst immer, wenn er heimkam. Dafür schoss seine Mutter aus dem Wohnzimmer und blickte suchend zum Treppenhaus, als erwarte sie Gäste. „Hast du Silia gesehen?“
Er warf Rucksack und Fußballtasche in die Ecke. „Nein, wie sollte ich? Ich bin direkt von der Schule zum Training.“ Warum war Mama so verstört?
Sie zeigte auf die Garderobe. „Ihr Ranzen und ihre Jacke sind nicht da. Ihr Snack steht unberührt im Kühlschrank. Sie war nach der Schule gar nicht hier!“
„Vielleicht ist sie bei einer Freundin?“
Mama schüttelte den Kopf. „Ich hab schon überall angerufen. Keiner hat sie gesehen.“ Mit beiden Händen fuhr sie sich durch das Haar. Es stand in alle Richtungen ab, ihre Augen blickten hektisch hin und her. „Lass deine Jacke gleich an. Wir müssen zur Polizei.“

Der Beamte sah von dem Formular auf, das er ausfüllte. „Was hat Sina heute an, Frau Lenz?“
„Sie heißt Silia. Eine Jeans, ein blaues Sweatshirt ...“
„Nein, das rosane hat sie an“, unterbrach Dustin.
„Bist du sicher?“ Er nickte. „Gut, also ein rosa Sweatshirt. Aber ihren blauen Anorak und die braunen Boots, die fehlen nämlich.“
„Haben Sie Probleme in der Familie, hatte Ihre Tochter vielleicht gerade Stress mit Ihnen oder Ihrem Mann?“
Mama fingerte an ihrer Handtasche. „Ich bin alleinerziehend. Aber Probleme hatten wir eigentlich nicht. Gut, das Geld ist hin und wieder etwas knapp. So viel verdiene ich nicht als Verkäuferin in Teilzeit und der Unterhalt kommt nicht immer. Markenklamotten ist nicht, und da mault sie manchmal drüber. Aber deswegen läuft man doch nicht weg.“
„Und mit der Schule?“
„Sie hat gute Noten. Und geht gern zur Schule, oder, Dustin?“
Er nickte. „Ja, sie ist total happy in ihrer Klasse.“
„Sie sind offenbar nie da, wenn die Kinder aus der Schule kommen. Sind Sie sicher, dass Sie Probleme überhaupt mitbekommen würden?“
Mama sprang auf. „Ich bin trotzdem eine gute Mutter! Was fragen Sie überhaupt für Sachen? Sie ist bestimmt entführt worden, von irgend so einem Perversen. Man liest das doch immer in der Zeitung. Lächerliche Strafen und nach ein paar Jährchen sind sie wieder draußen und schnappen sich das nächste Kind. Sie müssen sie suchen!“
„Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, Frau Lenz. Warten Sie hier, ich gebe die Personenbeschreibung weiter.“ Der Beamte stand auf und entfernte sich.
Dustin spürte ein merkwürdiges Kribbeln. Ihm war, als riefe Silia nach ihm. Sie war in Gefahr, und er war nicht da, um sie zu beschützen. Er hatte als großer Bruder versagt! Wo blieb der Polizist? Dustin wandte sich um. Der Beamte redete mit zwei Kollegen. Einer blickte herüber und sah Mama so an, wie man einen ekligen Käfer ansieht. „Wer wird schon so ein Unterschichtgör entführen?“, raunte er seinem Kollegen zu.
„Pst, nicht so laut“, erwiderte der andere.
Dustin ballte die Fäuste. Die würden sich gar keine Mühe geben, das war klar. Die dachten sie wären Assis. Bloß weil sie mit Mama alleine lebten.
Der Beamte kam zurück. „Frau Lenz, Sie sollten erst einmal heim gehen. Vielleicht ist Sina ...“
„Sie heißt Silia“, brüllte Dustin. Wie sorgfältig würden diese Idioten seine Schwester suchen, wenn sie sich nicht mal von zwölf bis mittags ihren Namen merken konnten? Seine Augen brannten. Nein, er würde jetzt nicht weinen. Er schluckte und fasste einen Entschluss.

Mama wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, als sie vor dem Kommissariat standen. Dustin nahm ihre Hand. „Ich geh sie suchen. Und du gehst heim, falls sie kommt oder anruft. Denen sind wir doch sowieso egal.“
„Gute Idee. Du weißt, wo sie immer zum Spielen sind. Hast du dein Handy dabei?“
„Ja.“
Sie nahm ihn bei den Schultern. „Sei vorsichtig. Wenn du was findest, ruf sofort an!“
„OK.“ Er sprintete los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hoffentlich war seiner Schwester nichts passiert. Obwohl sie gelegentlich eine Pest sein konnte. Zuerst rannte er zum Spielplatz. Dort saßen nur ein paar rauchende Kids aus der neunten Klasse. Weiter zum neuen Spielzeugladen. Es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag, als er mehrere Kinder sah, die sich die Nasen am Schaufenster platt drückten, darunter zwei in blauen Anoraks. Doch Silia war nicht dabei. Enttäuscht blieb er stehen und sah sich um. Wohin jetzt? Der Park. Da machte Silias Clique manchmal auf dem Nachhauseweg Halt. Wegen der tollen Rutsche. Auf seinem Kopf kribbelte es, als würde er im Gewitter stehen, dabei war heute typisches Novemberwetter. Er wusste auf einmal, dass er sich beeilen musste und sprintete los. Sein Herz raste mit den Beinen um die Wette. Am Park angekommen, war er sich japsend auf die erstbeste Sitzbank, um wieder zu Atem zu kommen. Hier war nichts los, bei dem Nieselregen hatte niemand Lust auf Spaziergänge. Sein Blick fiel auf den Entenweiher. Sie wäre doch nicht so blöd gewesen, da rein zu fallen, jetzt im Herbst. Nein, sie war doch keine fünf mehr. Aber was war das Rote dort am Rand, halb im Schilfgestrüpp? Die Farbe erinnerte ihn an – nein, das durfte nicht sein! Dustin rannte ans Wasser. Silias Ranzen! Er wollte schon danach greifen und ihn hinausziehen, als ihm der Standardsatz aller Fernsehkrimis einfiel: „Nichts anfassen, keine Spuren verwischen.“ Sollte er seine Mutter anrufen, oder die Bullen? Die würden ihm nicht glauben.
Er kniete sich hin und zog das Handy aus der Tasche. Seine Hose wurde feucht an den Knien. „Bitte lieber Gott, mach dass ihr nichts passiert ist. Ich verspreche dir, dass ich nie mehr dumme Zicke zu ihr sage.“ Er drückte auf 'Home'. Nach einem halben Klingelton hob Mama ab. „Dustin?“
„Ich habe ihren Ranzen gefunden, halb im Entenweiher im Park. Kannst du die Polizei anrufen? Ich bleibe hier stehen.“ Ein Aufschrei am anderen Ende der Leitung. Er unterbrach schnell die Verbindung. Ihm war schlecht. Um sich abzulenken, ging er ein Stück am Weiher entlang und starrte dabei ins Wasser. Nichts zu sehen. Auf einmal leuchtete Blaulicht durch die Büsche, ein Polizeiwagen kam über den Hauptweg angerast. Zwei Männer stiegen aus, dann seine Mutter. Dustin rannte in ihre Arme und hielt sie ganz fest. An ihren zuckenden Bewegungen merkte er, dass sie weinte. Zögernd strich er ihr über das Haar. Was sagten die Erwachsenen immer in so einer Situation? „Es wird alles wieder gut.“ Es klang total hohl und er glaubte seinen eigenen Worten nicht. Einer der Polizisten forderte über Funk die Spurensicherung an. Kurze Zeit später kamen weitere Wagen. Ein Polizist in Zivil ging auf Dustin und seine Mutter zu. „Frau Lenz? Hauptkommissar Holbich, ich bin zuständig für vermisste Personen. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Wann haben Sie das Verschwinden Ihrer Tochter bemerkt?“
„Aber das habe ich doch schon alles im vierten Revier erzählt. Wieso sind Sie erst jetzt dabei?“
„Ich war noch mit einem anderen Fall beschäftigt.“
Mama seufzte. „Als ich von der Arbeit kam, war die Wohnung leer. Silia ist ja oft unterwegs wenn ich heimkomme. Aber es war anders. Ihr Ranzen weg, das Essen nicht angerührt ...“ Dustin sah den Männern der Spurensicherung zu. Eben zogen sie den Ranzen aus dem Weiher. Ein Beamter mit Handschuhen öffnete ihn vorsichtig und ließ das Wasser herauslaufen. „Auf dem Namensschild steht Silia Lenz.“ Dustin starrte auf den Diddlanhänger. Ohne, dass er hätte sagen können warum, wusste er es in diesem Moment. Das Gefühl war einfach da. Silia war tot. Seine Augen brannten. Er durfte nicht weinen, er musste Mama trösten. Für sie war das bestimmt viel schlimmer. Er atmete tief ein und bewegte sich langsam auf Kommissar Holbich zu, der Mama gerade zu einer Parkbank führte. In einem der Wagen sprach ein Beamter mit dem Kommissariat. Dustin blieb stehen und beugte sich nach unten, um seinen Schuh neu zu binden. Vielleicht könnte er was erlauschen. Der Polizist rief einem Kollegen durch das Fenster zu: „Im Stadtwald ist soeben eine Kinderleiche gefunden worden! Ungefähr zehn, blond, bekleidet mit Jeans und einem rosa Sweatshirt. Übel zugerichtet. Weiß man, was die Vermisste anhatte?“ Dustin starrte mit offenem Mund den Wagen an. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Silia heute Morgen das Haus verlassen hatte. Das rosa Haarband passend zu ihrem Shirt, die bestickten Jeans, auf die sie so stolz war. Er fühlte sich, als hätte man sein Herz heraus operiert, schockgefrostet und wieder eingesetzt. Könnte sie noch leben, wenn die Polizisten gleich nach ihr gesucht hätten, anstatt zu warten, ob sie von alleine zurück kam?
Ihm war eines klar: Von nun an würde nichts mehr sein wie bisher. Und er fasste einen zweiten Entschluss. Er wollte sich von nun an in der Schule noch mehr anstrengen, bis zum Abitur bleiben, keine Lehre machen, wie er immer geplant hatte. Nein, wenn er groß war, würde er zur Polizei gehen. Und unerbittlich jeden Kindermörder jagen, wenn es sein musste, bis ans Ende der Welt. Und nie nie nie würde er einer Mutter nicht glauben, wenn sie in Tränen aufgelöst vor ihm stand und ein Kind vermisste.

Letzte Aktualisierung: 22.01.2010 - 15.03 Uhr
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