Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Do it youself | Januar 2010
Weltenerfinder
von Patricia Radda

Es war ein Genuss, ihr beim Lesen zuzusehen. Ihre Zehen krümmten sich, ihr Kinn war in freudiger Erwartung leicht vorgestreckt. Ihr ganzes Gesicht strahlte, und immer, wenn die Dialoge besonders witzig waren, lachte sie befriedigt auf. Manchmal konnte sie nicht lauthals auflachen, sondern quiekte irgendwie schadenfroh.
Ihre Finger liebkosten das Buch. Zuerst wurde Seite um Seite zärtlich umgeschlagen; dann, wenn sie in der Welt des Buches gefangen war, krallten sich die Finger am Rand fest. Als könnten nur noch die Seiten sie in der Realität halten. Die Zähne hatten sich in die Lippen gehakt, und jedes Mal, wenn die Spannung nachließ, leckte die Zunge blitzschnell über die aufgesprungenen Stellen. Sie lag auf dem Bauch und wenn es ihr zu unbequem wurde, bog sie die Füße nach oben. Dann streichelte ein Fuß den anderen.
Sie las stundenlang. Jeden Tag.

Ich hatte Geschichten gehört, von Männern, die ihren Frauen das Lesen verboten. Sie hielten Bücher für gefährliche Wesen mit noch gefährlicheren Ideen. Ich brachte meiner Frau Bücher mit. Sie freute sich. Sie schlug das Buch auf und begann, es zu lesen. Wie in Trance steuerte sie auf die nächste Sitzgelegenheit zu oder hockte sich einfach auf den Boden. Dann war sie nicht mehr ansprechbar. Sie versank in fremden Welten, die nicht meine waren. Dieser eine Fakt störte mich leicht. Nichts und niemand konnte sie so faszinieren wie ein Buch.
Als ich sie zum ersten Mal sah - auf ihrem Bett liegend, genussvoll in einem riesigen Bildband blätternd, dachte ich, diese Frau muss lesen. Das ist ihre Bestimmung. Und sie las.

Obwohl ich es von Anfang an wusste, habe ich das zuerst nicht verstanden. Ich dachte, sie liest einfach gern. Ich dachte, während ich sie so beobachtete und sie zufrieden mit ihrem Leben war, dass sie einfach nur ein glücklicher Mensch war. Sie machte mich froh, so wie sie war, und deshalb wollte ich sie zunächst immer wieder berühren.
Wenn sie gerade versunken war - in den Welten, die fremde Menschen für sie schufen, dann spürte sie meine Berührungen nicht. Ich streichelte sie, sie lag still da. Ich küsste ihren Hals, sie merkte es nicht. Ich ärgerte mich und rüttelte sie. Da erwachte sie aus der Buchwelt und sah mich fragend an: Sie hatte mich nicht ignoriert, sie hatte mich nur nicht bemerkt.

Daran musste ich mich gewöhnen. Aber wenn sie dann hier war, bei mir, zurück in ihrem Leben, dann war sie das Beste, was mir je passiert war. Die Freude und Leidenschaft, die sie beim Lesen zeigte, wandte sie immer an, egal was sie tat. Aber immer wieder wurde sie von den Begebenheiten, in die die Bücher sie zogen, eingeholt. Sie zitierte aus den verschiedensten Werken; und wenn ich sie nicht gelesen hatte, musste sie mir die Pointen immer erklären. Das gefiel mir nicht. Ich war ausgeschlossen.

Das Buch, das sie jetzt las, faszinierte sie nicht minder. Als ich nach Hause kam, hörte ich sie laut lachen. Später setzte ich mich ihr gegenüber in den Fernsehsessel, da rannen Tränen ihre Wangen hinab. Sie schniefte und ich hoffte, sie würde aus der Buchwelt herauf tauchen, um sich wenigstens die Tränen abzuwischen. Aber sie liefen unaufhörlich die Wangen hinunter und tropften die Seiten voll. Sie wischte zärtlich die Wassertropfen vom Buch, aber auf ihrem Gesicht trockneten sie nur langsam. Ich hatte lange hin und her überlegt, ob ich sie berühren sollte. Zum einen war ich sicher, dass sie es nicht bemerken würde. Zum anderen: was, wenn doch? Schließlich begann ich ihre Füße zu streicheln. So saßen wir drei Stunden.

Sie klappte das Buch zu. Auf der letzten Seite hatten nur drei Sätze gestanden. Ihre Gier war befriedigt. Der Drang, zu lesen, für den Moment gestillt. Sie fuhr sich über die Augen, wischte ihre Wangen ab. Sie sah mich an. Ich erwiderte den Blick. Was würde sie jetzt tun?

„In dem Buch ging es um eine Frau“, sagte sie.
„Ich weiß.“ Ich nickte ihr zu, um sie zum Weitersprechen zu zwingen.
„Sie reiste durch die Welt.“ Ihre Stimme war rau, vom langen Schweigen.
„Überall hin“, korrigierte ich sie.
„Sie hatte keine Freunde“, sagte sie.
„Sie hatte viele Freunde, überall“, widersprach ich.
„Nein. Sie hatte ihre eigene Welt vergessen.“
„Sie hat sich nicht viel um ihre eigene Welt gekümmert. Aber dafür hat sie andere Sachen kennengelernt.“
„Sie wusste nichts über ihre eigene Realität“, flüsterte sie.
„Sie wusste genug, um alle um sie herum glücklich zu machen.“
„Wie denn? Wie hätte sie das machen können?“
„Sie konnte es, weil sie so war, wie sie eben war. Ein lebensfroher Mensch,“ meinte ich.
„Wann hast du es geschrieben?“ Sie sah mich fragend an.
„In den Mittagspausen.“
„Warum hast du es geschrieben?“
„Ich habe es geschrieben, um ein Teil deiner Welt zu sein.“
„Du bist mein Leben. Meine … Realität, das Beste daran.“
„Okay“, sagte ich. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mehr sein muss.“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Warum denn?“
„Ich wollte eine neue Welt für dich erfinden.“
Sie lächelte. „Okay.“

Letzte Aktualisierung: 10.01.2010 - 14.19 Uhr
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