Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Do it youself | Januar 2010
Und dann erschuf der Mensch seine Welt
von Eva Fischer

Silvester war vorüber, ohne dass Herr Krümmel neue Vorsätze gefasst hätte.
Sein Leben verlief in geordneten Bahnen, denn Herr Krümmel war Sachbearbeiter in einer Behörde. Jeden Morgen um Punkt sieben verließ er sein Haus und betrat es zehn Stunden später wieder, meistens zumindest, denn die S-Bahnen waren weniger zuverlässig als Herr Krümmel.
Mittags aß er in der Kantine mit seinem Kollegen, Herrn Schürmann, der ihm tagsüber am Schreibtisch gegenüber saß. Eine Familie hatte Herr Krümmel nicht, und er vermisste sie auch nicht, sondern hörte sich höflich distanziert die Geschichten von launischen Ehefrauen an, die mit dem Geld nicht haushalten können, von Kindern, die einen nachts nicht durchschlafen lassen, weil sie Albträume oder Fieber quälen, oder von Schwiegermüttern, die sich ungefragt in das Familienleben einmischen.
Zufrieden saß er abends allein am Tisch, trank ein Glas Rotwein zu einem gesunden vitaminreichen Abendessen, schaute im Fernsehen die Nachrichten, machte noch einen kurzen Verdauungsspaziergang, bevor er endlich in seinem Lieblingssessel Platz nahm. Neben ihm lag ein Buch, und sein Blick verweilte dann und wann stolz auf seiner Bücherwand, die sich im Laufe der Jahre prächtig entwickelt hatte.
Hatten ihn die Festtage aus dem Rhythmus gebracht? An diesem Neujahrsmorgen stand Herr Krümmel stirnrunzelnd vor seinem Regal und hielt das Buch von Ludwig Thoma in der Hand: „ Lausbubengeschichten“. Er hatte es früher gern gelesen, aber auf einmal hatte er den Eindruck, dass dieses Buch einer Vergangenheit angehörte, zu der er keinen Zugang mehr wollte.
Er steckte es in die Tasche und machte sich zu einem Spaziergang auf. Die frische, kühle Luft brachte Farbe in sein Gesicht, und er schritt kräftig aus. Auf dem Boden befanden sich ausgebrannte Silvesterraketen. Luftschlangen kringelten sich trostlos daneben. Sie kündeten von einem Fest, das augenscheinlich vorbei war. Einem ihm völlig unbekannten Impuls folgend, näherte sich Herr Krümmel einem Abfalleimer und warf das Buch von Ludwig Thoma hinein.
Herr Krümmel fasste es selber nicht. Gerade hatte er ein Sakrileg begangen und ein heiliges Buch zwischen Chipstüten und leeren Sektflaschen dem Weg alles Vergänglichen preisgegeben.
Eine merkwürdige Unruhe erfasste ihn an diesem Abend und verleidete ihm die tägliche Freude an seiner Lektüre. Stattdessen starrte er auf die Lücke an seiner Bücherwand.
Sein Blick fiel auf „Die Leiden des jungen Werther“. Ein Würgegefühl stieg in ihm hoch. Er nahm das Buch aus dem Regal und verstaute es in seiner Aktentasche.
In den nächsten Wochen handelte er wie ein Besessener. Statt zu lesen, suchte er weitere Bücher aus, von denen er sich trennen wollte. Es bereitete ihm Höllenqualen, denn er liebte, was er über Jahrzehnte gesammelt und erworben hatte, aber das ungeheuere Lustgefühl der Befreiung war größer.
Der Winter lag in den letzten Zügen, als er sein Werk beendet hatte. Die Sonnenstrahlen durchfluteten sein Zimmer und beleuchteten seine Bücherwand, die mittlerweile einem zahnlosen Gebiss glich. Er betrachtete die leeren Reihen, als ihn gleichsam ein Geistesblitz traf. Endlich wusste er, warum er wochenlang rastlos gewesen war.
Er würde ein eigenes Buch schreiben.
Sein passives Dasein war vorbei, das Konsumieren von ihm letztlich fremden Gedanken. Er würde seine eigene Welt erschaffen, zumindest auf dem Papier.
Am nächsten Tag kaufte er sich einen Laptop mit Drucker. An seinem Arbeitsplatz war er mit dem Umgang eines Computers vertraut, doch bisher hielt er die Anschaffung eines solchen für überflüssig. Er grübelte nach, wovon sein Buch handeln sollte. Ein Liebesroman kam für ihn nicht in Frage, denn er hatte nie eine Frau kennen gelernt, die seine Gefühlswelt durcheinander gewirbelt hätte. Auch einem Abenteuerroman, einem Krimi oder einer Science-Fiction-Geschichte konnte er nichts abgewinnen. Er entschloss sich, eine Enzyklopädie zu schreiben, die seinem Ordnungssinn entsprach und kein Abbild dessen war, was er vorfand. Zwar war er kein religiöser Mensch, aber er fand, dass die Welt nicht vollkommen war und dringend einer Korrektur bedurfte. Der liebe Gott mochte ja theoretisch vieles durchdacht haben, aber praktisch war ihm nicht alles gelungen.
Die Osterglocken verkündeten die Auferstehung des Herrn, als er sich mit Feuereifer an sein Werk machte. Den bequemen Lesesessel hatte er an die Wand gerückt. Er saß jetzt vor seinem Laptop auf einem Stuhl mit hoher Lehne, die ihm den Rücken stärkte.
Obwohl kein Biologe, wollte Herr Krümmel mit der Tierwelt beginnen. Die Artenvielfalt erachtete er als überflüssigen Luxus der Natur. Insekten hatten ihn von jeher gestört. So strich er die Plagegeister, außer Bienen, da er Honig schätzte, und Fliegen, von denen er wusste, dass sie anderen Tieren als Futter dienten. Nun gut, einige Libellen ließ er wegen ihrer schönen, schillernden Flügel gelten.
Der Monat Mai befruchtete nicht nur die Natur, sondern auch Herrn Krümmels Phantasie. Nachdem er Listen erstellt hatte, welche Tierart bleiben und welche gestrichen werden sollte, ging er nun zur weiteren Korrektur der Schöpfung über. Mittlerweile war er bei den Haustieren angelangt. Den Katzen versagte er die Krallen und bei den Kühen fand er die Größe unpraktisch. Wie viel mehr Kühe könnten doch in einem Stall Platz finden, wenn sie kleiner wären? Eine lila Farbe für die Kühe lehnte er zwar ab, aber eine durchgängig weiße Farbe schien ihm angemessen, wies sie doch auf die wesentliche Funktion des Milchgebens hin.
Hunde, so entschied er, sollten Leute nicht anbellen, sondern schöne Melodien von sich geben. Den Hühnern verpasste er ein drittes Standbein. Damit beim Eierlegen nichts zu Bruch ging, sollten die Eier Größe und Konsistenz von Pingpongbällen haben. Ihr Gefieder sollte von Weitem in unterschiedlichen Farben leuchten. Da Legebatterien ablehnte, entschied er sich für winterfeste Hühner, die wie Laternen in der Landschaft stehen konnten.
Mittlerweile verzichtete Herr Krümmel auf sein Glas Rotwein, denn sein Schaffen verlieh ihm ein nie gekanntes Rauschgefühl. Essen und Schlafen sah er als notwendige Pflichtübungen an, die ihn vom Wesentlichen abhielten. Dazu gehörte auch seine Arbeit in der Behörde.
Herr Schürmann hatte die Wesensveränderung seines Kollegen bemerkt. Sein manchmal unerwartet auftauchendes Grinsen, seine geistige Abwesenheit deutete er als Zeichen einer Verliebtheit. Auf seine Fragen erhielt er keine Antworten, aber das war zu respektieren, wenn sich der Verliebte in Schweigen hüllte. Als jedoch Herrn Krümmels Augen dunkle Ringe umgaben, er immer mehr abmagerte, vollkommen verstummte und fahrig seiner Arbeit nachging, begann er sich ernstlich Sorgen zu machen.
Eines Tages blieb sein Arbeitsplatz leer. Der Chef bat Herrn Schürmann zu einem Gespräch. Man sei beunruhigt über Herrn Krümmels Entwicklung, ob er ihm nicht als Freund einen Hausbesuch abstatten könne.

Tag und Nacht waren endlich zu einer Einheit geworden. Der menschliche Körper musste seiner Meinung nach auch ganz neu erschaffen werden, denn Essen, Trinken, Schlafen machten ihn zum Sklaven anstatt zum Herrn der Schöpfung. Wie viel Zeit blieb ihm noch, sein Werk zu vollenden?
Eine innere Unruhe hatte ihn gepackt wie ein Tsunami. Hinter einer Nebelwand vernahm er Geräusche, die er kaum als Schellen oder Klopfen identifizieren konnte. Dennoch kroch er zur Tür. Mit viel Mühe öffnete er sie. Mit dunklen übernächtigten Augen starrte er seinen Arbeitskollegen verständnislos an. „Wasser! Ich brauche Wasser!“ brachte er hervor, bevor er zusammensank. Herr Schürmann sah die zahlreichen bedruckten Blätter auf dem Boden und die bunte Farbe an der Wand, die Pinselstriche hinterlassen hatten. Er nahm sein Handy und rief den Notarzt.

Sie saß neben ihm. Er fühlte ihren Körper, ohne ihn zu berühren. Sie brachte Farbe in das sterile Weiß des Raumes, dessen Licht durch Jalousien gefiltert wurde. Alle anderen Menschen an den Tischen lösten sich für ihn auf, wenn sie da war.
„Weißt du, dass deine Bilder von Tag zu Tag besser werden?“ Sie wandte ihm ihr warmes Lächeln zu, bevor sie den Pinsel in den Farbkasten tauchte.
„ Frau Büttner hat Recht. Das Düstere Ihrer Farbwahl hat sich verloren. Sie haben einen ausgezeichneten Sinn für Formen, Herr Krümmel.“
Wochen waren vergangen, seit man ihn in die Klinik eingewiesen hatte, wo man Menschen von ihren Obsessionen und Ängsten zu befreien suchte, ein Sammelsurium von unterschiedlichsten Schicksalen, die nun eine Gemeinschaft bildeten. Beate Büttner war die Perle, die er auf dem Meeresgrund gefunden hatte, ohne danach gesucht zu haben, ja ohne zu ahnen, dass es sie gibt.
Als ihr Mann sie verlassen hatte, suchte sie im Alkohol ein Polster gegen den Schmerz, um weiterhin in ihrem kleinen Bistro funktionieren zu können, bis sie vor den Augen einer Kellnerin zusammenbrach.
„Wir werden deine Bilder in unserem Lokal aufhängen. Vielleicht gibt es Kunden, die sie kaufen möchten.“
Vielleicht? Was war schon gewiss? Was war planbar, was machbar?
Herr Krümmel freute sich auf seine ungewisse Zukunft.


Letzte Aktualisierung: 03.01.2010 - 18.16 Uhr
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