Der Tod aus der Teekiste
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Do it youself | Januar 2010
Paradoxon
von Robert Poleschny

03.06.2009

Zögernd starre ich auf den Pillencocktail, der vor mir liegt. Er lächelt mich stillschweigend an und versucht mich ein weiteres Mal zu verführen. Ich brauche Hilfe! Er würde mir helfen, für ein paar Stunden der Realität zu entkommen. Ist es die Realität?
Bilde ich mir alles ein? Bin ich verrückt?
Die Welt um mich herum scheint sich aufzulösen. Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Klare Grenzen gibt es nicht mehr.
Ich weiß nicht, wer er ist. Aber ich bin sicher, dass er da ist. Dass er mich verfolgt, mich beobachtet. Doch wer würde einem wie mir Glauben schenken? Wer würde verstehen, was nicht einmal ich selbst verstehe?
Ein letztes Mal werde ich die Hilfe in Anspruch nehmen, bevor ich dem Ganzen ein Ende setze. Es muss ein Ende geben, und ich bin zu allem bereit.
Beherzt greife ich nach den Tabletten, schiebe sie mir in den Mund und spüle sie mit einem Schluck Bier hinunter. Ein warmes und zugleich beruhigendes Gefühl macht sich in mir breit. Meine Beklemmung tritt langsam in den Hintergrund. Mein Herzschlag wird gedrosselt. Ich lehne mich zurück und schließe meine Augen. Nur ein paar Stunden voller Glück, das mein Bewusstsein umhüllt, wie wabernder Rauch. Vorhanden, doch nicht greifbar. Mit einem Finger streichele ich den Abzug der Waffe, die neben mir liegt. Lächelnd trete ich weg.

Ein Geräusch lässt mich hochschrecken. Die Realität hat mich eingeholt. Mein Schädel brummt. Ich greife nach der Knarre, während ich zur Eingangstür schaue.
Er steht vor meiner Wohnung. Ich spüre, dass er es ist. Durch den Schlitz unter der Tür sehe ich seinen Schatten. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe.
Langsam erhebe ich mich. In der Dunkelheit meines Apartments erkenne ich nur schemenhaft, was mich umgibt. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Vorsichtig gehe ich in Richtung Ausgang. Die Dielen knarren unter meinem Gewicht. In der Stille ist dies ein ohrenbetäubendes Geräusch. Nur nicht die Nerven verlieren. Ich muss allen, und in erster Linie mir selbst, beweisen, dass ich nicht verrückt bin. Dass es ihn gibt.
An der Tür angekommen hole ich noch einmal tief Luft. Meine Hand gleitet behutsam zur Klinke und ich umschließe sie mit meinen Fingern.


2030

„Mister Fletcher, sie können jetzt hinein gehen. Mister Sandon erwartet sie in seinem Büro.“
Tom zuckte zusammen, als die Sekretärin ihn ansprach. Er war in Gedanken versunken und hatte sich gefragt, was genau er eigentlich hier suchte. Er erinnerte sich, wie vielversprechend die Werbung klang:
‚Wollen sie das Geschehene ungeschehen machen?’
Seit zwanzig Jahren hatte er nichts anderes gewollt. Die Neugierde hatte ihn gepackt.
Danach geisterte tagelang die Frage durch seinen Kopf, wie der Slogan gemeint gewesen war und ob es tatsächlich möglich sein würde, einen fatalen Fehler aus der Vergangenheit zu korrigieren?
Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, wollte es aber herausfinden. Endlich gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer nach all den Jahren der Qual.
Das falsche Lächeln der Vorzimmerdame konnte ihre Abscheu, wegen seines Aussehens, nicht verbergen.
Tom lächelte zurück und begab sich ins Sprechzimmer. Er war gespannt, was dieser Mister Sandon zu sagen hatte. Wenn ihm irgendetwas nicht geheuer wäre, könnte er jederzeit gehen.
„Ah, Mister Fletcher. Ich freue mich sehr, endlich ihre Bekanntschaft zu machen.
Gestatten, mein Name ist Sandon, Henry Sandon.“
Tom blickte in ein hübsches und vor allen Dingen vertrauenswürdiges Gesicht. Ein gutes Zeichen. Tom entspannte sich ein wenig. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre, in denen er wegen Mordes in der Psychiatrie gesessen hatte, war es unabdingbar gewesen, Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen. Ja, es war fast schon lebensnotwendig.
In den nächsten Stunden wurden Toms Zweifel vollends zerstreut. Er hatte ein gutes Gefühl, und das, was Mister Sandon erzählte, hatte Hand und Fuß. Auf alle Bedenken wusste er eine Antwort, Filme dokumentierten das Geschehen, ja sogar Aufnahmen, die untrügerisch aus der Vergangenheit stammten, wurden ihm gezeigt. Es war ersichtlich, dass dieses Unternehmen nicht erst seit ein paar Tagen Erfahrungen in diesem Metier gesammelt hatte. Schon viele vor ihm hatten diese Reise angetreten und nicht ein einziges Mal gab es ernst zunehmende Komplikationen.
Die staatliche Unterstützung und ein Zertifikat bestätigten dies.
Nach dem Gespräch sollte Tom nach Hause gehen und noch einmal alles gründlich überdenken.
Er brauchte nicht lange zu überlegen. Was hatte er schon zu verlieren? Ein verpfuschtes Leben, nur aufgrund eines Fehlers, an den er sich nicht einmal erinnern konnte. All die Tabletten hatten sein Gehirn mächtig in Mitleidenschaft gezogen.
Der Drogenmissbrauch hatte seinen Tribut gefordert.
Die Tage bis zum vereinbarten Termin schlichen dahin, während seine Aufregung immer größer wurde.
Eine Woche später war es soweit.
Auch wenn die ganze Angelegenheit wie ein Wunder anmutete. Die Prozedur stellte sich wider Erwarten als unspektakulär heraus. Tom wurde ein Serum injiziert, das ihn beruhigte und zugleich „zeitdurchlässig“ machte. Mehr nicht. Das Anlegen des Chronometers bekam er nur noch unterschwellig mit. Es dauerte nur ein paar Minuten. Dann fiel er in einen Schlaf. Die Reise begann.


02.06.2009

Tom erwachte mit einem starken Schwindelgefühl. Er hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, ging es ihm besser und er schaute sich um.
Er schien den Zeitsprung überstanden zu haben. Der Raum sah so aus, wie in den Aufzeichnungen der Videoaufnahmen. Ab jetzt war er auf sich allein gestellt. Die Firma `Future-Trip´ hatte im Laufe der Jahre in allen größeren Städten für Verbindungslöcher gesorgt. Das, was aus dieser einmaligen Möglichkeit gemacht wurde, blieb jedem, der diesen Schritt wagte, selbst überlassen.
Vorsichtig stand Tom auf, während seine Beine drohten, wegzuknicken. Er musste sich zusammenreißen. Viel Zeit hatte er nicht.
Mister Sandon hatte ihm erklärt, dass ein Aufenthalt in der Vergangenheit nicht unendlich lang dauern dürfte. Im Moment waren achtundvierzig Stunden das Limit.
Das hatte mit der Aufrechterhaltung des Wurmlochs zu tun, durch welches Tom in die Vergangenheit geschlüpft war. Nach Ablauf des Zeitfensters würde die Verbindung zusammenbrechen, und der Reisende in der Historie festsitzen.
Sollte alles funktionieren, und davon ging Tom aus, würde er nicht in seine alte Zukunft, sondern in ein anderes Morgen zurückkehren, das durchtränkt sein würde, von der Veränderung, die er hier in der Vergangenheit eingeleitet hatte. Lediglich zwei Aufgaben waren zu erfüllen. Er musste sein Alter Ego daran hindern, diesen Mord zu begehen und ihm klarmachen, welche Konsequenzen die Tat und das Zukleistern seines Gehirns mit diesen Drogen nach sich ziehen würden. Als Erstes musste er in die Bloomstreet fahren. Dort hatte er zu dieser Zeit gehaust. Beim Gedanken daran wurde ihm übel. Wie konnte es nur so weit gekommen sein?
Aus der Presse, die er während seines Aufenthalts in der Klinik mühselig ergattert und studiert hatte, wusste er, dass der Mord am 03.06.2009 stattgefunden hatte. Er selbst konnte sich an nichts mehr erinnern, da er damals bis zur Oberkante zugedröhnt gewesen war und jegliches Zeitgefühl verloren gehabt hatte.
Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg.


03.06.2009

Tom wartete, bis es dunkel war. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete seit Stunden das Haus. Sein anderes Ich hatte er seit gestern nicht mehr aus den Augen gelassen. Tom war sich sicher, dass dieser ihn nicht gesehen hatte. Er ging noch einmal alles durch.
Die Zeugen hörten den Schuss gegen zwanzig Uhr. Aus den Zeitungen ging nicht hervor, wer ermordet wurde.
Er schaute auf sein Chronometer. Es war 19:38 Uhr. Er wurde ungeduldig und überlegte, ob der angegebene Zeitpunkt wirklich stimmte. Dann fuhr ein Auto vor und eine zwielichtige Gestalt stieg aus. Tom hielt den Atem an. Das musste das Opfer sein. Erinnerungsfetzen schossen ihm durch den Kopf. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, war dieser Typ sein damaliger Dealer. Deshalb wurde auch nicht bekannt gegeben, um wen es sich bei dem Opfer handelte. Dieser Typ war illegal in diesem Land und machte sein Geld mit krummen Geschäften. Der Staat wollte eine weiße Weste behalten. Langsam nahm das Puzzle Gestalt an.
Als die Person im Haus verschwand, überquerte Tom die Straße und schlich sich in den Hausflur.
Er hörte einige gedämpfte Stimmen, sonst nichts. Ein erneutes Déjà-vu-Gefühl stieg in ihm auf. Schon gestern hatte er diese Empfindung, als er sein anderes Ich entdeckt hatte. Eine leblose Hülle auf der Suche nach dem nächsten Kick. Er bekam eine Gänsehaut. Vermutlich war die Psychiatrie seine Rettung vor dem Tod, auch wenn man den dortigen Aufenthalt nicht als Leben bezeichnen konnte.
Er musste sich beherrschen, wenn er dies durchstehen wollte.
Vorsichtig ging er die Treppe hoch. 3. Stock, Apartment 3.
Als er vor der Tür stand, spürte er sein Herz bis zum Hals schlagen. Er schaute noch einmal den Flur entlang, um sicher zu gehen, nicht gestört zu werden. Plötzlich trat der Nachbar von Gegenüber aus seiner Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Tom erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Als der Mann verschwunden war, ging Tom noch einen Schritt näher an „seine“ Wohnungstür und hielt sein Ohr daran. Er wollte wissen, ob sich der Dealer dort aufhielt. Aufmerksam lauschte er. Nur ein leises Knarren war zu hören. Kein Dealer! Offensichtlich vertickte er seinen Stoff woanders im Haus.
Tom wunderte sich. Wenn der Dealer nicht hier war, dann konnte er laut Zeitplan auch nicht das Opfer sein. Er fragte sich, wem um alles in der Welt er damals eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Ein weiterer Blick auf seinen Zeitmesser zeigte ihm, dass er sich beeilen musste, um hinter das Geheimnis zu kommen. Plötzlich öffnete sich die Wohnungstür. Tom stand sprachlos seinem Ich gegenüber. Er blickte in den Lauf einer Waffe und sah noch den Finger am Abzug.

Letzte Aktualisierung: 03.01.2010 - 21.39 Uhr
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