Herbert Sundermeier stand lange nachdenklich in seiner Einfahrt und blickte auf den Taubenverschlag seines Nachbarn Alfred Könnecke. Eigentlich störten ihn die Tiere nicht; doch seit sich im Sommer zu den Brieftauben noch wilde Tauben dazugesellt hatten, war das Fass übergelaufen.
Sie kackten Herberts Auto zu, fraßen die Sämereien aus seinem Garten, hatten alle Singvögel in der Umgebung vertrieben und durchwühlten sogar den Müll.
Alfreds Brieftauben waren dagegen immer unauffällig geblieben.
Eines Morgens schnitt sich Herbert beim Rasieren, weil eine dieser freifliegenden Bestien oben auf Schornstein saß und so laut gurrte, dass es im ganzen Haus widerhallte.
Ab diesem Zeitpunkt erklärte er den Tauben den Krieg.
Ein nettes Gespräch mit Alfred fand keine Einigung. Der Taubenverschlag stand schon seit zwanzig Jahren an seinem jetzigen Standort und war auch noch nie als Belästigung empfunden worden. Aber er versprach, sich der wilden Tauben anzunehmen.
Doch es passierte nichts.
Herbert Sundermeier wandte sich in seiner ruhegestörten Verzweifelung an das städtische Bauamt. Doch das stellte nach intensiven Messungen nur fest, dass alles seine Richtigkeit hatte.
Der einzige, der noch als Mit-Leid-Tragender dazu kam, war Ewald Kozlowski, der drei Häuser weiter wohnte. Durch Luftbildaufnahmen und einen Anwohnertipp waren die Beamten dem heimlich glücklichen Besitzer eines neuen Gartenhäuschens mit festem Fundament auf die Schliche gekommen. Und da sie schon einmal in der Nähe waren, prüften sie die nicht vorhandene Genehmigung und hinterließen einen Ewald mit hängenden Schultern und entsprechend saurem Gesichtsausdruck.
Jetzt lag es an Herbert, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Dazu wollte er zu drastischen Mitteln greifen, um seine Ruhe wiederzufinden: im Keller lag noch ein altes Luftgewehr aus Jugendtagen nebst Munition.
Nachdem es gereinigt und geladen war, wollte Herbert damit die Tauben in regelmäßigen Abständen verschrecken und damit zur Aufgabe zwingen.
Und wenn es nicht anders ging, würde er auch vor Tauben-Mord nicht zurückschrecken.
Jetzt lag der Taubenschreck zwischen den Koniferen nahe der Hauswand. Nur der Gewehrlauf ragte aus dem Grün hervor. Herbert war aufgeregt und seine Hände zitterten. In dieser Situation gelang es ihm kaum, Kimme und Korn im Einklang zu halten.
Als nächstes musste er ein Ziel auswählen. Sollte er irgendwo auf das Dach schießen? Oder vielleicht doch gleich auf eines der Viecher? Auf eine Taube mehr oder weniger kam es mit Sicherheit nicht an, doch dann erspähte er über den Lauf den Blitzableiter auf dem Verschlag. Herbert presste den Kolben fest an seine Schulter, hielt den Atem an und krümmte den Finger am Abzug. Falls er nicht traf, würden die Tiere infolge des Schusses erschreckt davonfliegen.
Ehe der Kleinwildjäger richtig abdrücken konnte, erhob sich der ganze Schwarm mit lautem Gegurre in die Luft.
Herbert konnte sich keinen Reim darauf machen, als etwas Braunes am Blitzableiter entlanghuschte, vom Dach sprang, ein Loch im Zaun fand und sich durchs Gemüsebeet schlängelte. Er beobachtete das haarige Tier, wie es vor seinem Auto stehenblieb, sich umschaute und mit einem Satz unter dem Motorraum verschwand.
Herbert erkannte den vermeintlichen Saboteur als Marder, der sich am Wagen zu schaffen machte.
Nicht mit seinem Eigentum! Damit stand das Säugetier als neues Primärziel fest.
Schießen kam von der derzeitigen Position nicht in Frage. Herbert sprang auf und schrie so laut er konnte, während er zum Auto lief.
Als der Marder durch die schrillen Misstöne des Schreienden das Weite suchte, stürzte der jetzt zwei Feinden Gegenüberstehende lang hin. Eine Rasenkante hatte seinen Sprint jäh beendet, bevor er seine sportlichen Stärken auch nur annähernd ausspielen konnte.
Natürlich verkrampften sich seine Hände beim Hinfallen um das Gewehr und ein Schuss löste sich.
Glücklicherweise prallte die abgeflachte Patrone am Vorderreifen ab, traf allerdings als Querschläger irgend etwas im Motorraum. Es gab ein lautes Zischen und eine dunkle Flüssigkeit lief unter dem Fahrzeug hervor.
Kaum war der Schuss verhallt, fehlte auch von Herbert, bis auf einen wackelnden Ast in der Nähe der Hintertür, jede Spur.
Den folgenden Morgen verbrachte Herbert im Haus. Er kletterte auf den Dachboden, weil er von dort einen hervorragenden Blick auf den Taubenverschlag hatte. Oben gab es noch eine klapprige Holzleiter, die zum Dachfenster führte. Der Hobby-Attentäter schob den Metallbügel des Fensters in die Höhe und ließ ihn einrasten. Zu guter letzt steckte er den Lauf seiner Waffe durch den Schlitz und richtete ihn aus.
Plötzlich riss Herbert eine angsteinflößende Stimme aus seinen Gedanken: „Herbie, wenn du schon mal da oben bist, bringst du dann den Schaukelstuhl mit runter?“
Seine Frau Magarethe hatte ihn so aus seiner Konzentration gerissen, dass er vor Schreck hochfuhr. Er schlug mit dem Kopf gegen die Luke und löste dabei den Bügel. Das Fenster fiel herunter und schlug ihm das Gewehr aus der Hand, dass es in die Dachrinne rutschte. Nachdem der Schmerz im Handgelenk wieder nachgelassen hatte, stemmte sich Herbert mit ganzer Kraft gegen das Glas. Durch den Druck seiner Beine zerbarst eine Sprosse der Leiter und er fiel rückwärts genau auf den Schaukelstuhl. Sein Hintern zeriss die Sitzfläche - seine Arme, Beine und ein Teil des Oberkörpers hingen aus dem Gestell heraus.
Er brauchte fast eine halbe Stunde, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Und dann noch den restlichen Vormittag, das Gewehr aus der Dachrinne zu fischen.
Als es dunkel war, traute sich Herbert Sundermeier wieder aus seinem schützenden Heim heraus.
Er stellte sich wieder in die Einfahrt und schaute auf die immer schwerer zu erkennende Silhouette des Taubenverschlages. Ein großer Stein lag in seiner Hand. Dann holte der Tief im Innern Verletzte weit aus.
Als sein Arm den höchsten Punkt erreicht hatte, knackte es in seinem Rücken und er erstarrte in seiner Bewegung.
Erst als sich wilde Tauben auf seinen Kopf und seine Schultern setzten, schrie er um Hilfe.
Seine Frau kam zu spät, um ihn zu retten. Die Vögel hatten ihm die Haare zerzaust, Schnittwunden im Gesicht zugefügt und so mit frisch gepresstem Taubensaft überschüttet, dass Magarethe ihn nicht mehr ins Haus lassen wollte.
Doch ein extra langes Duschen stimmte sie milde.
In dieser Nacht hielt ein Unwetter Herbert von seinem wohlverdienten Schlaf ab. Er steigerte sich mehr und mehr in seine Wut hinein, so dass er erst in den frühen Morgenstunden erschöpft einschlief. Gerädert begab er sich ins Badezimmer und war erstaunt, als er aus dem Fenster sah: das Vogelhaus war weg!
Das Schicksal hatte es doch gut mit ihm gemeint!
Am Frühstückstisch schien Herbert wie ausgewechselt. Er strahlte über das ganze Gesicht und war freundlich wie schon lange nicht mehr. Magarethe wollte ihn schon fragen, ob er irgendwelche Tabletten nahm, ließ es aber bleiben, um die gute Stimmung nicht zu zerstören. Endlich hatte sie ihren alten Herbie zurück!
Der Sturm hatte einige Ziegel vom Dach gerissen. Zwischen den Trümmern lagen noch Holz- und Drahtreste vom Taubenverschlag im Beet und dem Rasen. Herbert war gerade dabei, fröhlich pfeifend mit einem Rechen für Ordnung zu sorgen, als Alfred Könnecke an den Zaun trat.
Herbert Sundermeier beendete seine Aufräumarbeiten und stützte sich auf seinen Gartengerät: „Hallo Alfred, das mit deinen Tauben tut mir leid!“ Es fiel ihm schwer, nicht zu grinsen.
Der Nachbar lächelte ihn gewinnend an: „Das glaube ich dir zwar nicht, aber du hattest recht. Mit den wilden Tauben konnte es so nicht weitergehen. Ich züchte jetzt schon seit so langer Zeit Vögel, dass mir der Gedanke sehr schwer fiel. Nachdem ich heute Morgen sah, was das Unwetter angerichtet hat, war ich traurig und glücklich zugleich, weil mir die Entscheidung abgenommen worden war. Sozusagen „Höhere Gewalt“. Dann sprach ich mit meiner Versicherung wegen einer kaputten Dachrinne und der verbogenen Sat-Schüssel und erwähnte noch beiläufig meinen Taubenverschlag. Und jetzt kommt das Beste: sie ersetzen mit den kompletten Schaden! Und wenn ich jetzt noch ein bisschen was drauflege, kann ich einen viel größeren Verschlag bauen!“
Alfred zog einen Zollstock aus seiner Gesäßtasche und ging zu dem Platz, an dem die Tauben einst gewohnt hatten.
Herbert ließ den Rechen fallen, ging ins Haus zurück und schloss sich für den Rest des Tages in seinem Büro ein. Dort kramte er aus einer Schreibtischschublade seinen Notfallplan heraus – ein Handbuch mit den Titel: Vom Huhn zur Hühnerfarm in drei Wochen.
Letzte Aktualisierung: 15.01.2010 - 14.27 Uhr Dieser Text enthält 8649 Zeichen.