Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Do it youself | Januar 2010
Serie XV 368 von Rosario
von Marika Bergmann

Man kann mich bestellen. Wenn die schützende Folie abgezogen wird, bin ich geboren.

13:00
Es ist soweit. Meine neue Besitzerin steht vor mir. Würdigt mich nur eines schnellen Blicks und geht aufgeregt im Zimmer umher. Den Empfang hab ich mir anders vorgestellt. Ich blicke mich suchend um. Neben mir ... nur ein altes Buffet. Dahinter eine rote Wand. Mein Rot beißt sich mit der roten Fläche in meinem Rücken. Mag mich kaum umsehen. Wenn mein Schöpfer das nur sehen könnte! Ich, aus der Serie XV, der 368ste, HIER, an diesem Ort? Das muss ein Versehen sein! Der Tisch vor mir ist unangemessen hoch und durchschneidet mit seiner wuchtigen Kante meine Proportionen. Die Signora mit ihrem grauen Dutt tänzelt um mich herum. Was macht die Frau nur? Sie setzt sich auf meine Polsterung und tätschelt mich. Ihre Finger tippen jetzt eine Melodie auf die Tischplatte vor mir. Nein, keine Melodie, einen Marsch: Tarom, tarom, tarom! Das macht mich ganz nervös. Heilige Madonna! Sie steht auf und schiebt ein hässliches altes grünes Wollkissen unter ihr breites Hinterteil. Das kratzt fürchterlich. Jetzt noch ein weiteres. Basta! Und dann noch diese Kante vor meiner Nase. Alles dreht sich.

14:20
Die Signora hat wie eine Besessene an den Beinen des Tisches gesägt. Jetzt geht sie um das neue Arrangement und starrt auf die Fläche hinter mir. Sie erkennt, gottlob, dass die Wand überhaupt nicht mit meinem feurigen Rot harmoniert. Sie schiebt die Hornbrille bis zum wulstigen Ende ihrer Nase. Prüfend ... immer vor und zurück. Der Blümchendruck auf der Gardine ...! Oh Dio, was macht sie nur?! Sie zerrt die Gardine aus der Halterung.

Gertrud, zeitgleich:
Jetzt hab ich’s! ... Nein! Ein anderer Tisch muss her! Die Wand muss neu gestrichen werden und der Teppich passt ganz und gar nicht mehr. Der hat noch nie gepasst. Wenn ich mir die Vorhänge so ansehe ... Nein! Die rosa Blümchen ... füüüüürchterlich!


14:42
Ist ganz aufgewühlt, die Signora. Was ihr wohl durch den Kopf geht? Jetzt versucht sie zu entspannen und schaut an die Zimmerdecke. Ich mit ihr ... Die Lampe! Ihr Körper liegt auf meiner Polsterung wie ein Kartoffelsack.

14:45
Ihre raue Hand streift am Bezug entlang und ertastet die Ornamente an meiner Lehne. Sie krallt sich fest. Aua! Der Oberkörper schnellt hoch. Der Rest folgt ... die dicken Schenkel mit dem fetten Gesäß zuletzt. Bin schon ein wenig besorgt um meine Linie. Ihr Hintern hat tiefe Krater hinterlassen. Für zentnerschwere Lasten bin ich nicht ausgerichtet.

Gertrud, momentan:
Und die Form der Sofalehne ... ! Tzzzzz! Passt ganz und gar nicht zum Buffet. Ich könnte schreieeeen! Wir brauchen eine neue Lampe und außerdem ist der Tisch jetzt viiiiel zu niedrig ... und die Lampenschirme ... die müssen weg! Die Lampe auch! Jetzt sofort!


15:16
Der Teppich ist zusammengerollt, die Vorhänge sind weggerissen, die Lampe ab – kein irritierendes Beiwerk mehr. Die alte Schabracke hat sich auf mir breit gemacht und rutscht aufgeregt auf mir herum ... die scheuert noch meinen Stoff durch! Kommt die denn gar nicht zur Ruhe?! Jetzt stößt sie sich von meinem Polster ab. Mein zarter Federkern schmerzt. Sie reißt das Ölgemälde mit Brunftschrei von der Wand! Der alte Hirsch hat ausgedient.

Gertrud:
Das Bild! Bööööööääääähhhhh!


16:16
Die Furie thront erneut auf mir – mein Innenleben biegt sich durch. Es zwickt überall. Wenn etwas nicht zu meinem italienischen Design passt, dann die übergewichtige Signora.

Erneut Gertrud:
Der Versandhauskatalog! Ich bestelle sofort: neue Vorhänge, einen neuen Teppich, einen neuen Tisch, ein neues Buffet, ein neues Bild, eine neue Lampe. Dann ... wo ist nur die Telefonnummer vom Anstreicher und ... ich hab’s: mein rotes Kleid, das ich für unseren Hochzeitstag genäht hatte! Ich werde mich darin um Jahre jünger fühlen auf dem neuen roten Sofa.


17:44
Jetzt liegt sie in einem roten Kleid auf mir! Ob ihr Mann gleich kommt? Ein Frösteln zieht durch meinen Stoff. Sie riecht nach Hausmannskost und Veilchenparfum! Eintöpfe hin oder her – aber dieser süßliche Blumenduft in Kombination?! Ob ich mich daran gewöhnen könnte? Wenn ihr Mann sie so sieht ... Wo wird das nur enden! Speckige, sich reibende Leiber auf meinem schönen Samt! Nein, das will ich nicht! Meister Rosario! Wo bin ich hier nur hingeraten? Mir wird übel, ich muss husten ... da flutscht der fette Brocken doch glatt zwischen die Polsterung von Rückenlehne und Sitzfläche. Mein Polster ist für einen Augenblick sehr füllig. Es knackt einige Male laut, doch ich finde zu meiner Form zurück. Ich habe schließlich einen guten Stoffwechsel. Da bin ich in wenigen Minuten wieder ich selbst.

18:38
Es ist still – beginne mich schon zu langweilen nach dem Trubel von vorhin. Da kommt das Gegenstück der Signora! Der ist ganz hager. Armer Kerl! Dem hab‘ ich bestimmt einen Gefallen getan.

Ernst:
Endlich zuhause.
»Gertrud!«
Merkwürdig … sie scheint nicht da zu sein! Wo ist mein Abendschmaus? Habe Hunger auf Würstel mit Kohl, Linseneintopf oder brutzelnde Eier mit Speck! Wo steckt meine Gertrud nur? Das Licht im Wohnzimmer geht nicht!
»Gertrud?«
Die Stehlampe aus dem Schlafzimmer muss her ...


18:44
Das Licht geht an! Ich schrecke auf, als der Signore mit aller Wucht gegen mich schlägt und einige Momente später auf mich herabsinkt.

Ernst, unmittelbar:
Hoppla! Ging gerade noch mal gut! Was war das? Der Teppich ist zusammengerollt. Werde mich erst mal setzen. Gertruds Veilchenparfüm! Wo ist sie nur? Ihre Hausschläppchen stehen neben dem Tisch. Holzspäne! Wo kommen die denn her? Die Lampe und die Vorhänge fehlen. Was ist nur? Diese Unordnung! Hat meiner Gertrud das neue Sofa nicht gefallen?


18:49
Ich bin ein gut aussehendes Sofa. Meine herzförmige Rückenlehne hat einen goldenen, mit Ornamenten versehenen Abschluss. Zwischen der Sitzfläche und dem Rückenpolster klemmt noch was. Das stört! Das gehört nicht zu mir!

Ernst:
Dieses kleine rote Stoffstück ist doch bestimmt noch von der Verpackung. Oder ...? Was ist denn das?! Gertruds rotes Kleid – Neiiiiin! Ihr Dutt hängt am Reisverschluss! Hat sie ... ? Das kann nicht sein! »Gertrud!«


18:57
Der Signore tastet die Sitzfläche nach seiner Signora ab. Das kitzelt! Krieg gleich ‘nen Lachkrampf. Der hebt mich an, sieht unter meine Polsterung. Mein grober Nesselstoff ist sorgfältig befestigt. Halbrunde Nagelköpfe säumen die perfekte Naht. Du alter Trottel – sei doch froh, dass du die Signora los bist!

Ernst:
Gertrud! Da kratzt und schabt doch was! Meine Gertrud! »Gertruuuuuud!«


19:13
Ein Wahnsinniger! Hilfe! Er reißt mir die Haut vom Körper. Zerfetzt meine Eingeweide. Bricht mein Gestell auseinander. Mörder! Hilfe! Meister Rosario! Ich bin nicht mehr was ich war ... Stück für Stück lädt er meine Überreste in seinen klapperigen Ford. Aus den Weg geräumt hat er mich. Dieser kleine Schwächling hat mich überwältigt.

Ernst:
Was ist nur in mich gefahren? Hab‘ ich wirklich geglaubt, das Sofa hätte meine Gertrud mit Haut und Haaren ... ? Absurd! Ich Idiot. Wie sehr hatte sich Gertrud dieses neue Sofa gewünscht. Ich muss die Spuren beseitigen! Sie ist bestimmt bei der Friseuse im Nachbarhaus. Hat sich den alten Dutt abgeschnitten und will mich mit einer neuen Frisur überraschen. Wenn die beiden ihren Plausch halten ... kann das dauern. Meine Chance die Überreste wegzuschaffen! Wie bring ich das meiner Gertrud nur bei?


20:35
Dieser verrückt gewordene Signore hat mich doch tatsächlich in einem Flammenmeer dem Himmel übergeben. Ich steige als roter Rauch empor. Eine grässliche Mischung aus Hausmannskost und süßem Veilchenduft umgibt mich. Muss an die Signora und den Signore zurückdenken. Ich habe abermals als Sofa versagt. Meister Rosario, vergiiiiiiiiiib miiiiiiiiiir!

21:00
Vergiiiiiiiiiib miiiiiiiiiir!

22:00
Vergiiiiiiiiiib!

23:00
... giiib!

24:00
369.

Man kann mich bestellen. Ich bin jetzt die 369 von Tausend aus der XV Serie des Maestros Rosario. Wenn die Schutzfolie entfernt wird, lebe ich.

Letzte Aktualisierung: 19.01.2010 - 20.50 Uhr
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