Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Do it youself | Januar 2010
Aderhautentzündung
von Rainer Wedler

Ob die Zeugin tatsächlich bis zuletzt nur ein Opfer seiner Täuschungen geblieben ist oder ob sie etwa nicht doch auch ein eigenes Interesse an den Zusammenkünften gehabt hatte, hat das Gericht nicht abschließend klären können.

Am Anfang war eine kostenlose Anzeige in der örtlichen Werbezeitung.
Ich m 48-180 ledig, NR, sportl.-schl., nett, su. a. d. Wege nette Sie, NR Voraussetzg. schl.-sportl. für Unternehmungen, Single-Anfängertanzkurs angestrebt, Antw. bitte mit Bild, Chiffre V 29024

Joachim Hothorn bekam nur ein paar Briefe. Frauen zwischen 50 und 70 Jahren priesen sich an: gute Köchin, weiblich, gepflegt, anschmiegsam usw. usf., großbusig waren sie alle. Warum dann so viele Passfotos? Hothorn griff blind in den kleinen Stapel zog einen Brief heraus und rief die angegebene Nummer an. Eine unsicher erregte Frau sagte nur zögerlich einem Treffen im Café Schilling zu. Das Café Schilling war das letzte Café im alten Stil, dessen Tage offensichtlich gezählt waren. Das schien Hothorn passend für eine Frau, die ihr Alter mit 55 angab.
Also dann bis Donnerstag. Sie erkennen mich an meinem roten Schlips. Und woran erkenne ich Sie?
Ich, sie war hörbar überrascht, ich weiß nicht.
Dann lesen Sie einfach im Tageblatt.
Danke, das ist eine gute Idee. Also bis Donnerstag, auf Wiederhören.
Ein schlichtes Gemüt, dachte Hothorn und legte auf.

Sie las in der Zeitung, war nicht großbusig und sah aus wie 60.
Ah, Sie haben schon Ihren Kaffee. Hoffentlich warten Sie nicht schon lange?
Sie schüttelte den Kopf, er setzte sich ihr gegenüber und winkte der Kellnerin.
Eine Tasse Kaffee und zwei Apfelstrudel, bitte. An sein Gegenüber gewandt, Sie mögen doch Apfelstrudel?
Sie nickte.
Also, dann zwei Apfelstrudel mit Eis und Sahne.
Bitte für mich ohne Sahne.

Als die Bedienung die leeren Teller abräumte, wusste Hothorn so ziemlich alles über seine neue Bekanntschaft. Es war das Übliche: schlechte Kindheit, wenig Freunde, von den Männern ausgenutzt, jetzt nach langer Zeit noch einmal der Versuch, einen netten Mann kennenzulernen.
Da sei er, sagte Hothorn, ja genau der Richtige. Sie könnten sich ja gleich nächste Woche bei ihr oder auch bei ihm Zuhause treffen, ganz wie sie wolle. Dann lieber bei ihr, meinte sie.

Nothorn zahlte die Rechnung und gab ein zu großes Trinkgeld. Er bot ihr an, sie nach Hause zu fahren, was sie freundlich dankend ablehnte, sie habe noch Besorgungen zu machen. Ihre Hand war kalt und feucht, als sie sich verabschiedeten.

Er brachte einen Blumenstrauß mit und stellte nebenbei eine Flasche Rotwein auf dem Dielenschrank ab. Irma Weltzel bedankte sich mit der üblichen Floskel, dass dies aber nicht nötig gewesen sei. Der Tisch war schon gedeckt, der Kaffee duftete.
Setzen Sie sich doch.
Der Kuchen schmeckte gut, Hothorn aß gleich zwei Stücke und lobte die Lockerheit des Bodens.
Das könnte man öfter essen.
Wer weiß, sagte sie und mit einem Mal sah sie ganz locker aus.
Darf man hier rauchen?
Natürlich, aber nur, wenn Sie mir auch was von sich erzählen.
Aber nur, wenn ich Irma zu Ihnen sagen darf.
Dabei stand er, holte die Weinflasche, zog ein Mehrzweckmesser auf der Hosentasche und entkorkte sie.
Hier sind die Gläser.
Sie hatte ihre schönen Kristallgläser genommen, die sonst nur zur Zierde in der Vitrine standen.
Es klang hell, weil er nur halbvoll eingeschenkt hatte.
Irma!
Joachim!
Es glitzerte in ihren Augen. Er zog sie an sich und küsste sie flüchtig auf die Wange.

Das erfuhr sie von ihm:
Er sei schon einmal verheiratet gewesen, seine über alles geliebte Frau sei sehr früh an Krebs gestorben, die Trauer habe ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, nie mehr habe er eine Frau angefasst. Nur die Arbeit habe ihn davor bewahrt, dass er sich nicht umgebracht hat. Immerhin habe er es zu etwas gebracht, ein großes Auto, ein hübsches Haus im Grünen und einige Euro auf dem Konto. Und er habe sich immer ein tolles Motorrad geleistet.

Die Flasche hat er fast allein geleert. Jetzt ist er auf Touren gekommen.

Ich bin ein begeisterter Biker gewesen, eine schwere BMW, dann dieser Unfall, ein Idiot von Mercedesfahrer, so ein alter Depp, hat mir die Vorfahrt genommen, ich bin nach vorne über den Tank und den Lenker gerutscht, mir hat es, ich muss es leider sagen, also mein Geschlechtsteil hat´s bös erwischt. Und dann hat sich das Ganze noch entzündet, die Infektion hat auf die Augen übergegriffen.
Hier übernimmt Irma Weltzel kurz ihren Part der Achs und Ohs und will wissen, ob man was sehen kann.
Nein, da siehst du nichts, aber ich seh was, nämlich graue, verzerrte Stellen im Bild, und machen kann man nichts, das führt zur Erblindung.
Irma Weltzel erhöht die Ach- und Ohfrequenz.
Aber mein Arzt, ein Spezialist für Aderhautentzündungen, hat ein Mittel entdeckt, das helfen kann.
Irma Weltzel atmet erleichtert auf, ihr ältlicher Busen gerät mangels Masse in eine nur schwache Auf- und Abbewegung.
Der Doktor meint, nur die erotischen Impulse einer Frau können mich vor der Erblindung retten. Wenn das nicht passiert, könnte ich sogar verblöden. Und dabei könnte doch alles so schön sein, wir könnten ein herrliches Leben führen.
Wieder glitzert es in Irmas Augen, wieder versucht ihr Busen vergeblich, Wogen zu erzeugen. Sie streichelt ihm den Kopf, denkt, das könnte ihm schon helfen.

Hothorn merkt, dass das für den Anfang genügen muss. Nur nicht die Pferde scheu machen. Also steht er auf, bedankt sich überschwänglich für Kuchen und Kaffee, vor allem aber für ihr Verständnis. Und lädt sie fürs nächste Wochenende zu einer Fahrt in Blaue ein.

Es dauerte drei blaue Fahrten und fünf Einladungen zum Essen in wechselnden Lokalen sowie zwei intime Treffen in seiner Wohnung, bis es zur ersten Heilbehandlung, einer manuellen Therapie, kam, in richterlicher Sprache, zu Handlungen im Gebiete der Sexualsphäre, die die Geschlechtsehre der Frau zu verletzten geeignet sind. Danach sagte Nothorn, ein bisschen besser ist es mit den Augen schon geworden, und überreichte Irma als Zeichen seiner Dankbarkeit ein Fläschchen Parfüm.

Bei der nächsten oder übernächsten Sitzung, eigentlich Liegung, erzählte er ihr von seinem letzten Besuch bei seinem Facharzt, der habe sich erfreut gezeigt von den Anfangserfolgen.
Allerdings hat er gesagt, eine weitere Besserung ist nur möglich, wenn wir die Therapie ausweiten, genau so hat er gesagt. Sogar eine vollständige Heilung ist möglich, wenn wir die Spitzentherapie anwenden.
Und was ist das?
Ich würde sagen, das ist die Königsdisziplin.
Und das ist?
Nothorn hatte jetzt ein Problem, so direkt aussprechen mochte er diese Praktik nicht, weil er befürchtete, die Irma damit zu erschrecken.
Der Richter hat es später Mundverkehr genannt. An diesem Terminus kann der geübte Leser unschwer das Alter dieses Herrn erkennen.
Nothorn jedenfalls sagte, komm, ich zeig´s dir. Es wurde eine arge Tortour für die arme Heilerin. Zum Dank gab´s dieses Mal einen Einkaufsgutschein über 100 Euro. Und nach ein paar Stunden einen Anruf: Du wirst es nicht glauben, aber die Flecken im linken Auge sind weg! Ich bin ganz glücklich, das wollte ich dir nur sagen, und danke, danke!

Nach der nächsten Behandlung machte Irma Weltzler den Vorschlag, dass man die Behandlung intensivieren sollte, um eine vollständige Heilung möglichst schnell herbeizuführen, schließlich sei ausgemacht, dass sie dann heiraten würden. Habe er nicht gesagt, dass er erst ganz gesund sein wolle?
Stimmt, das ist mein Verantwortungsgefühl.
Weißt du, deine Krankheit ist eine große Aufgabe für mich, deshalb habe ich einige meiner Freundinnen gefragt, du weißt ja, wir haben da einen geheimen Zirkel, wo wir für das Gute in der Welt und für ihre Errettung zu unseren Göttinnen beten, ich hab die also gefragt, ob sie mir dabei helfen wollen, einen kranken Menschen vor der Erblindung und Schlimmerem zu bewahren, und jetzt freu dich, alle haben zugesagt.
Nothorn wusste nicht, wie ihm geschah. Er fiel auf die Knie und betete zu allen Göttinnen für diese Gnade. Und das alles habe ich dir zu verdanken, du meine Irma, meine über alles geliebte Irmela, mein Irmelchen. Ich werde um so schneller gesund und wir können endlich heiraten.
Und dachte, ich werde immer wieder Rückfälle haben, jede Verschlechterung macht mich glücklicher.

So kam Nothorn für einige Wochen in den Genuss einer allseitigen Therapie. Warum das Ganze ein abruptes Ende fand und Nothorn sich wegen Beleidigung durch unzüchtige Handlungen vor Gericht zu verantworten hatte, ist nicht bekannt. Vielleicht wäre das ja eine eigene Geschichte.

Letzte Aktualisierung: 03.01.2010 - 18.49 Uhr
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