Der Tod aus der Teekiste
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Do it youself | Januar 2010
Der Rossbiss
von Caroline Fürholzer

Als ich Herbert zum ersten Mal sah, war es um mich geschehen. Ich war sicher, dass er zu mir gehörte. Seine flaschengrünen Augen und der milchkaffeebraune Teint ließen keinen Raum für Zweifel offen: Er war derjenige, der mein Herz verdient hatte.
Fast vierzig lange Jahre hatte ich auf ihn gewartet. Genau genommen 39 Jahre 7 Monate und zwei gescheiterte Ehen lang.
Auch, wenn es sich nur um ein angestaubtes Foto handelte, das auf der Kommode meiner Zwillingsschwester stand und von dem aus er mir viel versprechend entgegenlächelte, so war ich in dieser Sache doch ganz sicher. Melanie gegenüber erwähnte ich meine Erkenntnis mit keinem Wort. Schließlich war sie gerade im Begriff, ihn für sich zu erobern. Und das, obwohl er im 300km entfernten Helmstadt lebte.

Zwei Wochen später fuhren Melanie und ich gemeinsam in die Berge. Frische Luft würde uns beiden gut tun und besonders ihrem asthmageschwächten Körper zu neuen Kräften verhelfen, hatte der Hausarzt gemeint.

Gesagt, getan. Nach einer mehrstündigen Wanderung legten wir eine kleine Pause ein und ließen uns erschöpft auf einem Felsen nieder, der einladend in der Landschaft lag. Tief nahm ich die süßliche Frühlingsluft in meine Lungen auf. Ein paar Sonnenstrahlen kitzelten mich auf der Nase und ein Zitronenfalter hatte sich auf meinem nackten Knie niedergelassen. So musste sich Freiheit also anfühlen.

Gerade hatte Melanie einen herzhaften Biss in ihr Salamibrot gemacht, als sie
sich zaghaft nach vorn überbeugte, um mir etwas in der Ferne zu zeigen. Blitzschnell fuhr meine Hand in ihre Richtung und kniff sie mit einem Ruck ins Knie. „Rossbiss“ hatten wir diese Berührung in Kindertagen genannt, die uns schon damals erbärmlich zusammenzucken ließ, aber doch zum Lachen brachte. Melanie, das Sonnenscheinkind und ich, die Nachdenkliche. Äußerlich wie ein Ei dem anderen und innerlich wie Tag und Nacht. Auch im Erwachsenenalter waren wir unseren Rollen treu geblieben.
Kichernd kreischte Melanie auf, zuckte zusammen wie ein Klappmesser und stürzte vornüber. Schon war sie mit einem schrillen Schrei in der Tiefe des Tales verschwunden.
Einige Sekunden lang war ich nicht sicher, ob der Klang ihrer Stimme noch zu hören war. Doch es nur das Echo hallte noch einige Augenblicke lang nach.


Der Abstieg erfüllte mich mit Leichtigkeit. Beinahe kam es mir vor als hätte er Symbolcharakter. „Sich schrittweise seinem Ziel nähern.“ Das war es doch, was Dr. Bors stets zu sagen pflegte.

Im Tal angekommen verstaute ich die Rucksäcke auf der Rückbank meines Kombis und rief einen Krankenwagen. Ich presste ein paar Tränen aus den Augen, als die Sanitäter Stunden später eintrudelten und mir mitteilten, die Leiche in einem Felsspalt gefunden zu haben.

Wieder Zuhause angekommen klingelte Melanies Handy und ich nahm ab. Herbert war in der Leitung. Entsetzt stellte ich fest, dass er stark lispelte. „Mir geht es wunderbar, die Luft tut mir gut!“ antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte angestrengt, den Tonfall meiner Schwester zu imitieren. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass er mich mit keinem Wort erwähnte. Scheinbar hatte ihm Melanie meine Existenz bislang verschwiegen.

Eine gute Woche später war es dann so weit. Ich hatte alle Formalitäten geregelt und zog in den Nachbarort, wo Melanies Dachgeschoßwohnung bereits auf mich zu warten schien. Bald schon würde hier ein frischer Wind wehen. Doch ich beschloss, nichts zu überstürzen. Der Friseur hatte mir einen frischen Bürstenschnitt verpasst und mein Optiker hatte mir das Brillenmodell erneuert. Nun sah ich aus, wie Melanie kurz vor ihrem Unfall ausgesehen hatte.

Als Herbert dann wenige Tage später leibhaftig vor mir stand, war alles anders als ich es mir erträumt hatte. Er hatte um gut 10 kg mehr als auf dem Bild, litt an unauslöschlichem Mundgeruch und sein Haar war an manchen Stellen bereits sehr schütter. Sein Foto war also mindestens fünf Jahre alt gewesen. Kein Zweifel, ich musste mich geirrt haben, denn auf ihn hatte ich ganz bestimmt nicht gewartet.
Ach Melanie, dein Sturz war also für die Katz´ gewesen …
Inzwischen habe ich mich gut eingelebt in meiner neuen Rolle und kann in Ruhe auf den echten Richtigen warten.

Letzte Aktualisierung: 16.01.2010 - 14.18 Uhr
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