Der Tod aus der Teekiste
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Tante Käthe | Februar 2010
Hilf dir selbst
von Sigrid Wohlgemuth

Tante Käthes Magen knurrte. Ein weiteres Mal in meinem Leben hungere ich, dachte sie. Ich habe immer gehofft, es nicht nochmals zu erleben. Sie saß aufrecht im Bett, zwei Kissen stützten ihren gebeugten Rücken. Gebannt sah sie auf ihren Arm, gab stumm den Befehl: Bitte beweg dich, ich habe Hunger. Köstlich duftete es vom Teller, der auf dem Beistelltisch stand. Es gab Königsberger Klopse mit Kartoffeln und Kapernsoße. Schon in der Kindheit Käthes Leib- und Magenspeise, abstammend von ihrem Heimatort Königsberg. Wenig Speichel bildete sich, sie schluckte, hüstelte. Der Rachen war zu trocken. Sie stierte aufs Essen, sog mit geschlossenen Augen den herzhaften Geruch tief in ihre Lungen ein. So gut es ging. Der Magen schmerzte. Seit vier Tagen hatte sie hin und wieder einen Löffel voll, hastig, in den Mund geschoben bekommen. Flüssigkeit bekam sie durch den Schlauch, der in der Hand steckte.

Wieder strengte Tante Käthe sich an, das Besteck zu erreichen, das neben dem Teller lag.
Bitte, Gott, lasse mich meine Hände bewegen können. Die gekrümmten, mit Altersflecken übersäten Finger zitterten. Gehorchen taten sie schon lange nicht mehr.

Ich hab mir in meinem Leben immer selbst helfen können!
Im zweiten Weltkrieg meine drei Kinder alleine durch die Hungerperiode geführt. Gestohlen, überall. Bin tagelang gewandert, die Jungen an der Hand, die Kleine auf dem Arm, unsere Habseligkeiten auf den Rücken geschnallt. Unter Dornenbüschen habe ich sie versteckt und bin in die Gärten gekrochen. Dort Kartoffeln und Möhren mit den bloßen Fingern aus dem Erdreich gegraben. Immer darauf geachtet, dass ich nicht zu viel fortnahm. Wenigstens die Mägen der Kinder sollten von der warmen Suppe, die fast nur aus Wasser bestand und tagelang reichen musste, gestillt werden.

Tante Käthe schielte ein weiteres Mal auf die Klopse, leckte sich trocken über die Lippen.
Dann verfiel sie wieder in die Vergangenheit. In der ließ es sich seit Längerem besser leben als in der Gegenwart. Abgemagert bis auf die Haut hatte sie den Krieg überlebt, den geliebten Mann verloren. Der älteste Sohn jung an Tuberkolose gestorben, der zweite wurde ihr entrissen und verschleppt. Ihre Tochter hatte sich ein Leben in den Staaten aufgebaut, kam selten zu Besuch. Geblieben waren ihr die Patenkinder.

Ein Schatten huschte an ihrer Tür vorbei. So schnell, dass die Person Tante Käthes krächzenden Hilferuf nicht mitbekam. Zwei Tage, dann ist Samstag. Ich habe damals durchgehalten, ich werde es die wenigen Stunden auch noch schaffen.
Sie schaute aus dem Fenster, die Sonne ließ sie blinzeln. Der köstliche Duft ließ nicht nach und sie lenkte ihren Blick zum Teller. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie ihre gebrechlichen Finger sich verselbstständigten, den Löffel packten und ihn tief in die mit Ei verdickte Suppe tauchten. Sie öffnete den Mund und genoss den Geschmack von Kapern auf ihrem Gaumen. Ein Stück Fleischball! Sie kaute langsam darauf herum, bevor sie ihn hinunterschluckte und die Wärme sich im leeren Magenraum ausbreitete.
„Fertig?“ Schon griff der Pfleger nach dem Tablett und trug es ohne eine Antwort abzuwarten aus dem Zimmer, schloss die Tür.

Samstag kommt die jüngste Nichte, sie wird mich füttern, wie jeden Samstag und sie wird bis zum Abendessen bleiben und Sonntag wechseln sich ihre Geschwister ab. Und vielleicht kann ich ihnen dann zu verstehen geben, dass die Pfleger mich vergessen zu füttern. Sie haben halt viel zu tun. Doch wie mache ich mich verständlich? Seit Tagen versuchte sie es, doch ihre Stimme versagte nach dem letzten Schlaganfall, der sie ans Bett fesselte.
Meine Augen, mein Verstand, ich werde einen Weg finden, ich wusste mir schon immer zu helfen. Und auf ewig bleibe ich in diesem Pflegeheim auch nicht. Sie schloss die Augen und versank in die Vergangenheit, hielt sich daran fest und vergaß den vor Hunger rebellierenden Magen.


©Sigrid Wohlgemuth

Letzte Aktualisierung: 21.02.2010 - 00.17 Uhr
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