Der Umschlag war von blassrosa Farbe und verströmte einen leichten Duft nach Lavendel. Heike drehte ihn in der Hand. Er war nicht an sie gerichtet. Wer hätte ihr auch einen blassrosa, lavendelduftenden Brief ins Haus flattern lassen sollen? Die Adresse ihres Mannes stand darauf, ein Absender fehlte.
Nachdenklich legte Heike den Brief auf den Tisch, stützte den Kopf in die Hände. Das war es also! Von wegen Überstunden, weil in der Firma ein großer Auftrag eingegangen war! Heike lachte bitter auf. Für wie blöd hielt Ralf sie eigentlich? Seit fünf Wochen ging das nun schon so – und es schien ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil. Richtig beschwingt war er geworden! Und hatte er nicht … ? Heike stürzte ins Badezimmer. Ja klar, da stand eine neue Rasierwassersorte! Von Ralf, der doch immer so am Althergebrachten hing!
Wo hatte sie nur ihre Augen die ganze Zeit gehabt? Neue Socken hatte er sich auch gekauft und die selbst gestrickten von seiner Mutter im Schrank liegen lassen. Jahrelang hatte sie erfolglos auf ihn hin geredet, dass diese Selbstgestrickten jeden Sexappeal abtöteten. Und was war? „Heike, ich kann doch Mama nicht so vor den Kopf stoßen! Du weißt doch, wie sehr Mama sich damit abmüht.“ Mama rauf und Mama runter. Dabei war in deren Familie auch nicht alles koscher! Ha! Wieder lachte Heike auf, und es klang alles andere als fröhlich. Natürlich wurde das mit einem Mäntelchen des Schweigens zugedeckt, in Schwiegermutters Familie durfte es ja keine dunklen Flecken geben. Aber hatte sie nicht irgendwo eine Schwester, die einen „unsauberen“ Lebenswandel geführt hatte und darum aus dem stockkatholischen Nest geworfen worden war? Heike hatte es sich abgewöhnt, danach zu fragen. Sie bekam sowieso nie eine Antwort. Und Ralf meinte nur: „Ich weiß davon nichts und es interessiert mich auch nicht.“ Natürlich nicht. Mama war ja unfehlbar. Eine Ikone sozusagen. Wer könnte dagegen schon ankommen? Sie jedenfalls nicht.
Heike seufzte. Die vielen Ehejahre zogen im Zeitraffer an ihr vorüber. Was hatte sie eigentlich davon gehabt? Immer im Schatten der alles bestimmenden Schwiegermutter? Schließlich hatte sie es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Ob sie deswegen mit ihm stritt oder sich Mühe gab, besser als „Mama“ zu sein – am Ende trug die doch immer den moralischen Sieg davon. Selbst jetzt, wo sie alt und völlig verkalkt war, wusste die Schwiegermutter noch immer alles besser, bekam bei Widerspruch Wutanfälle und damit Recht. Und sie, Heike, hatte es auszubaden. „Schatz, wir können Mama nicht ins Pflegeheim stecken, das wäre ihr Ende!“ Also war die alte Frau bei ihnen ins Gästezimmer eingezogen, drangsalierte Heike mit ihren Wünschen und Vorschriften und erstickte ihren Sohn weiterhin mit ihrer eingebildeten Mutterliebe.
Heike schüttelte die kurz geschnittenen, grauen Haare. Ihr blieb ja nicht einmal Zeit für einen ausgiebigen Friseurtermin! Und was war der Dank? Ralf entfloh dem allem und suchte sich eine Geliebte!
Wieder hob sie den Umschlag hoch und schnüffelte daran. Na ja, etwas altmodisch schien die ja schon zu sein. Lavendel! Wer benutzte denn heutzutage noch so was? Ob sie ihn öffnen sollte? Im Grunde widerstrebte es ihr. Wie sollte sie erklären, dass sie aus Eifersucht seine Post geöffnet hatte? Und was hatte sie denn davon, wenn sie wusste, wer diese Frau war? Es machte doch nichts besser!
Heike fasste einen Entschluss. Ab sofort würde sie sich nur noch und ausschließlich um ihr Leben kümmern! Zielstrebig versenkte sie den ominösen Umschlag im Schlafzimmerschrank unter ihren Slips. Sollte diese dumme Person doch auf Antwort warten, bis sie schwarz wurde! Heike kicherte böse. Vielleicht machte sie Ralf ja sogar Vorwürfe und der konnte ja wohl schlecht nachfragen, wo der Brief geblieben war!
Schwungvoll fuhr sie den Computer hoch. Gut, dass sie durchgesetzt hatte, einen Computerkurs zu absolvieren! Das war gar nicht einfach gewesen. „Schatzi, du brauchst doch gar keinen Computer, wo du sowieso immer zu Hause bist.“ „Doch, mein Lieber, gerade deswegen brauche ich ihn! Er ist mein einziges Fenster nach draußen, wo ich doch wegen Mama immer hier präsent sein muss.“ Zähneknirschend hatte er es ihr zugestanden. Und sie, Heike, hatte die ruhigen Zeiten im Hause genutzt, um sich durch allerhand Foren zu kämpfen. Inzwischen kannte sie sich recht gut aus. Sie konnte sogar chatten!
Ihren Lieblingschat suchte sie nun auf. Ob der „gut erhaltene, ein paar Pfund zu viel, aber kein Opatyp“ wohl heute auch wieder da war? Erfreut lachte sie auf. Er war online! Nun, heute würde sie so mit ihm chatten, dass ihm die Augen tränten …
Er hieß Erwin, war verwitwet, kinderlos wie sie, finanziell gut gestellt und - das war das Wichtigste! - seit mehr als zehn Jahren Vollwaise. Es war schwierig, sich mit ihm zu treffen, aber Heike hatte kein schlechtes Gewissen, als sie ihrer Schwiegermutter wachsende Mengen von deren Beruhigungsmittel einflößte. Der alten Frau tat es überdies nur gut, wenn sie mal ein paar Stunden am Tag fest schlief …
Erwin erschuf Heikes Leben neu. Endlich fühlte sie sich wieder frei, begehrt und vor allem - jung! Ach Gott, jünger als sie sich mit Ralf jemals gefühlt hatte. Ralf bemerkte nichts, wie er wohl nie bemerkt hatte, wie es ihr ging. Dass seine Mutter in den letzten Monaten immer weniger ansprechbar und desorientierter geworden war, hing sicher mit ihrem Alter und dem allgemeinen Zustand zusammen. „Irgendwann geht eben alles zu Ende, nicht wahr?“ Er machte keine Überstunden mehr, aber das war Heike inzwischen sowieso egal. Geliebte oder auch nicht, was machte das schon aus? Ihr jedenfalls ging es endlich gut. Sie warf die Verantwortung, die sie so lange getragen hatte, ab wie einen alten Mantel.
Denn Erwin vergötterte sie, trug sie auf Händen, machte sie zum Mittelpunkt seines Lebens. Nach einem halben Jahr beschloss sie, Ralf zu verlassen. Ihn und, vor allem, seine Mutter.
Er fiel aus allen Wolken. „Heike, ich dachte, wenn ich für dich wieder attraktiver … “ Er knautschte hilflos ein Paar Selbstgestrickte in den Händen. Doch Heike ließ sich auf keine Diskussionen mehr ein. Ihr Entschluss stand fest. Spät, aber unumstößlich.
Viel zu packen hatte sie nicht, als sie auszog. Erwin hatte ja ein gut eingerichtetes Häuschen und sie wollte sich nicht mit alten Erinnerungen belasten. Als sie ihre Unterwäsche aus dem Schrank nahm, knisterte Papier. Ach du liebe Güte, der Brief! Sein Lavendelduft hatte sich in ihren Slips verloren, aber die blassrosa Farbe hatte sich gehalten.
„Ach ja, Ralf, das hatte ich ganz vergessen. Hier ist ein Brief für dich!“
Verwundert drehte er ihn in der Hand. Schlitzte ihn auf. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Murmelnd hörte sie ihn vorlesen:
„Lieber Neffe,
ob Du von mir gehört hast, weiß ich nicht. Ich bin die „große“ Schwester Deiner Mutter und wurde von ihr vor sechzig Jahren aus dem Haus geekelt. Es passte ihr nicht, dass ich mich mit einem sehr viel älteren und noch dazu evangelischen Mann einließ. Nun, ich habe diesen Mann geheiratet. Leider blieb unsere Ehe kinderlos. Mein Mann ist seit langem verstorben und hat mich mit einem größeren Vermögen gut versorgt zurück gelassen. Jetzt wird es langsam Zeit, dass auch ich meinen Nachlass regle, denn ich bin alt und krank und habe dafür nur noch wenige Wochen Zeit. Im Angesicht des Todes erscheint es mir geboten, die Verwandtschaftsverhältnisse wieder aufzunehmen.
Wenn Du, anders als deine Mutter, nicht so starrsinnig und verbohrt bist, würde ich Dich gern kennen lernen. Vielleicht finden wir Gefallen aneinander und ich muss mein Erbe nicht dem Tierschutzverein hinterlassen. Allerdings musst Du Dich rasch entscheiden, denn meine Zeit verstreicht schnell.
Es grüßt Dich
Deine Tante Käthe“
Letzte Aktualisierung: 22.02.2010 - 21.43 Uhr Dieser Text enthält 7853 Zeichen.