Tante Käthe | Februar 2010
Abrechnung
von Bernd Kleber
Ein Blick zur Uhr. 12 Uhr 45. Sie fixiert die Schrankwand. Wenn sie ihre Verabredung einhalten will, muss sie jetzt los. Sie erhebt sich. Ihre Hände krallen sich um die Griffe des Rollators. Schritt für Schritt müht sie sich, ein Bein vor das andere zu setzen. Am Schreibfach angekommen, holt sie japsend Luft. 12 Uhr 50. Schweiß rinnt ihr den Rücken herunter, obwohl im Raum knapp siebzehn Grad herrschen. Kühle Luft strömt durch die angelehnte Tür ins Wohnzimmer. Aus dem Schrank greift sie die goldfarbene Metallbox mit den Zigaretten, die weiße Spitze und das Feuerzeug. Alles legt sie in den Korb der Gehhilfe. Sie greift noch nach der Dose mit den Keksen, packt sie dazu. Umständlich manövriert sie das Gerät und sich selbst in Richtung Ausgang.
Wie bei Kranarbeiten hebt sich abwechselnd jedes Bein in die Höhe, schaukelt, tariert aus, um gemächlich abgesetzt zu werden. Sie kommt voran. Um 13 Uhr ist sie verabredet. Keine Minute früher oder später. Einen geübten Schritt über die Schwelle getan und sie mustert die kleine Runde. Alle drei sind pünktlich. Sie starren sie erwartungsvoll an. Bis zu ihrem angestammten Platz, einem Korbstuhl, ist es nicht mehr weit. Auch das schafft sie und setzt sich. Mit klammen Griffen wickelt sie eine Decke um ihre Beine und Füße. Die Finger steif und ungelenk.
Ihre Strickjacke schließt sie bis an den Kragen. Die Drei schauen aufmerksam zu. Sie steckt mit zittrigen Fingern eine Zigarette in die Spitze. Das Feuerzeug spuckt klickend eine kleine Flamme, der Tabak beginnt zu glühen. Genussvoll zieht sie den Rauch ein. Räuspernd wendet sie sich ihren Gästen zu.
„Herr Hohner, du siehst schlecht aus! Geht es dir nicht gut?“ Der Angesprochene rückt seine Haltung zurecht. Er schüttelt sich. Ein verlegener Blick.
„Ich staune, dass ihr tatsächlich gekommen seid. In unserem Alter rechnet man ja nicht mehr mit Wundern. Ich habe euch heute etwas mitzuteilen.“
Sie hebt ihre Hand, da sie jetzt keinen Einspruch duldet. Lange schlanke Finger, die große Ringe zieren.
„Ach Hohner, ich hätte damals nicht mit dir ausgehen sollen. Wie ich zu dir aufblickte. Blutjunge achtzehn war ich. Und du? Der vollendete Kavalier. Hieltest mir die Tür auf, rücktest mir den Stuhl zurecht. Das alles beeindruckte mich. Wie du mich ansahst mit deinen blauen Augen, als wir beim Wunschkonzert mitsangen: ,Bei dir ist es immer so schön ...’
Wie ich meinen Kopf an deine Schulter legte, wenn Zarah Leander ihre schwermütigen Lieder sang und im Kino alle Frauen Nähe suchten. Nein! Sag jetzt nichts.“
Sie öffnet die Keksdose und stellt sie auf den Gartentisch.
„Doch dann, sie hatten die Silbersteins verschleppt, hatten Paul und seine Genossen verhaftet, die Braunen wurden immer aggressiver. Du bist in diesen beschissenen Haufen ein...getreten. Und plötzlich käutest Du diese Parolen wieder und wieder. Als du sogar von ,Neuem Boden` für eine ,Neue Zeit` und ,Umsiedlung nach Polen` spekuliertest, ach Hohner! Das Kreuz an deinem Revers ekelte mich geradezu an. Du knalltest vor mir die Hacken zusammen, phhhh, wie grotesk. Ich bekam so einen Hass auf alles. Du Idiot! Du alberner Mensch! Die Höhe war, mich anzuschreien mit deinem ,Heil’. Bäh, wie ich mich im Café Bauer schämte. Gäste sahen auf und du standest da wie der tapfere Zinnsoldat, ohne jede Lebendigkeit, ohne jeden Anflug von Zartheit und Liebe. Du warst eine Marionette, ein Spiegelbild dieser Zeit, aber auf der falschen Seite des Spiegels. Nein! Ich verabscheute dich und meine Zuneigung zu dir. Alles hast du mit dieser einen, bezeichnenden Bewegung zunichte gemacht.“
Sie hustet und schlägt die Asche in ein Marmorgefäß.
„Ich hasste dich dafür!“
Laut ist sie geworden. Mit nichts würde sie heute hinterm Berg halten. Die drei Hurensöhne sollen all das schlucken, woran sie über Jahre fast erstickt ist.
Lohmeier macht dicke Backen. Damit gewinnt er sofort ihre Aufmerksamkeit.
„Fritz, der Lohmeier, schön, dass du auch meiner Einladung gefolgt bist. Alles hätte ich für dich getan. Mein Herz schlug nur für dich. Ein Mann, zu dem ich aufsehen konnte. Wenn wir uns trafen und an den Händen hielten. Wenn wir über unsere Zukunft sprachen, unsere schöne gemeinsame Zeit und unsere Familie planten.“
Herr Lohmeier nickt mit geweitetem Blick in Richtung der anderen beiden Herren.
„Dass es mir aber nicht merkwürdig erschien, diese Treffen im Hotel oder bei mir. Nie sah ich dein Zuhause. Kein Wunder! Wie naiv ich war. Meine Güte, wenn ich dir in die Augen sah, versprachst du mir unsere Zukunft, die wie eine Seifenblase zerplatzte. Es war dieser heiße Sommertag, an dem du länger arbeiten solltest. Ich ging allein in unser Café und bestellte mir einen Eisbecher. Plötzlich hörte ich deine vertraute Stimme und lächelte verliebt in mich hinein. Deine Stimme gehörte ja an diesen Ort. Und dann antwortete eine Frau, aber nicht ich. Ich drehte mich zu euch um. Da warst du mit deinen Kindern, deiner Frau. Ich traute meinen Augen nicht, konnte deine Unsicherheit förmlich riechen, als du mich wahrnahmst. Wie konnte ich es auch wagen, ohne dich dorthin zu gehen? Mein Eisbecher zerschmetterte auf dem Boden. Mir wurde schwindelig. Du schobst deine Familie aus der Eisbar. Ich schämte mich so sehr. Ich schämte mich meiner Naivität und meiner Träume. Als du in den nächsten Tagen vor meinen Füßen lagst und weintest, musste ich alle Kraft aufbringen, nicht nach dir zu treten. Du warst so erbärmlich! Du gabst dich als Mann und warst nur ein Egomane.“
Lohmeier runzelt die Stirn, will etwas sagen, sieht aber nur verlegen um sich.
„Herr Krause, Peter Krause, du warst meine letzte Enttäuschung. Mein Gott, wie dämlich ich war! Da hatte ich die Erfahrung mit diesem Heil-Hinkel-Hohner gemacht und fiel wieder auf einen Befehlsempfänger herein. Denkt ihr eigentlich, dass Uniformen stark machen? Uniformen schalten lediglich alles gleich.“
Krause geht auf und ab, senkt den Kopf dabei.
„Nie werde ich vergessen, als ich mit der Brigade zur Maidemo ´63 musste und dich fragte, ob du mitkommen würdest. Als du dich wandest wie ein Wurm, du hättest schon ..., könntest nicht sagen ..., sei ja auch eine Brigade ..., und schon gar nicht würdest du früher die Kolonne verlassen. Das machten wir aber alle. Nur du nicht. Zu spät erkannte ich den Grund. Ich küsste dich und erzählte dir, wo wir uns aus dem Marsch stehlen würden. Hielt dich in den Armen und lachte, als du unseren Hochzeitstermin vorschlugst. Lachte vor Glück! Dann auf, zur Demo in den Mai! Wenn man sich bei der BGL* gezeigt hatte, galt man als anwesend. Der Marschblock zog an der Tribüne vorbei und ich blickte zu den Greisen hoch. Wie sie dastanden und winkten. Wedelten mit ihren Armen wie Roboter. Man munkelte sogar, dass es lediglich Pappfiguren seien, dort abgestellt fürs Volk und dessen Vorbeimarsch.
Da sah ich dich! Ein Stich in meine Brust, ich stockte und ging nicht weiter. Leute liefen hinter mir auf und murrten. Du standest dicht hinter einem dieser winkenden Funktionäre und sahst dich in alle Himmelsrichtungen um, eine Hand im Mantel. Nein! Sei still jetzt! Du Stasispitzel! Mein Herz gehörte einem Stasimann. Deshalb konntest du dich nicht davonstehlen, dich nicht entfernen, bevor das Ziel erreicht war. Darum logst du mich an, was deine Arbeit betraf. Dein ganzes Leben eine einzige Lüge. Wenn du nicht Minister bewachtest, spioniertest du rechtschaffene Menschen aus. Darum wurden nach unserer Verlobungsfeier Evi und Robert verhaftet. Darum bekam ich von der FDJ*-Leitung die Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Ich fühlte mich beschmutzt, gebraucht und betrogen. Du bist ein fieses kleines Schwein.“
Angewidert zischt sie das letzte Wort.
„So, ihr drei. Eure Lügen machten alles in mir stumpf. Verwelkt, jedes Gefühl der Zuneigung, jedes Vertrauen an das Gute im Menschen. Lügen wurden mein Fluch. Das ist nicht gerecht! Nun sitzt ihr hier und guckt betreten. Ich hätte gern eine Familie gehabt, Kinder, einen kleinen Garten. Eine Anlage der Liebe.
Ich war nicht mehr in jenem Alter, in dem man mit dem Finger schnippt und Kavaliere heranflattern wie Motten zum Licht. Ich wurde wegen ein paar Fältchen gemieden; von Männern, die sogar wesentlich älter waren als ich.
Setz dich wieder hin, Peter, und hör dir das gefälligst an!“
Sie zeigt auf den leeren Sitzplatz.
„Arbeiten, nach Hause, ins Bett und wieder arbeiten. Das war mein Leben, nach dieser beschissenen Nazizeit, dem Krieg mit den Luftangriffen, dem Hunger in der Nachkriegszeit, dem Wiederaufbau.
Ihr habt nur an euch gedacht. Vielleicht habe ich genau solche Männer angezogen. Ich bin froh, dass ich heute endlich den Mut und die Gelegenheit hatte, euch zu sagen, was ich von euch halte. Jedem von euch hätte ich damals die Wahrheit ins Gesicht schreien müssen, stattdessen habe ich mich verkrochen und geschämt. Wisst ihr das? Das war´s, ich habe euch nichts mehr zu sagen.“
Sie greift in den Korb und hält eine kleine Pistole in der zitternden Hand, zielt ...
... und zündet sich eine weitere Zigarette an.
Im Inneren der Wohnung klappt eine Tür.
„Tante Käthe? Hallo? Bist du wieder auf dem Balkon? Oh mein Gott, es ist doch viel zu kalt, Käthe!“
Eine junge Frau greift unter die Arme der Alten, während sie sanft sagt: „Komm, wir gehen hinein.“
Hochgescheucht davon, erheben sich drei Tauben vom Balkonrand, drehen gurrend eine Runde in der Luft und lassen sich auf dem Dach gegenüber nieder.
„Und die Tauben sollst du nicht füttern, Mensch, Käthchen, das ist verboten. Jeden Tag das Gleiche mit Dir!“
*Betriebsgewerkschaftsleitung des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) in DDR-Betrieben
*FDJ- Freie Deutsche Jugend in der DDR die Jugendorganisation der SED ( Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands)
Letzte Aktualisierung: 20.02.2010 - 00.03 Uhr Dieser Text enthält 9807 Zeichen.
Druckversion
Amazon.de Widgets