Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Ich habe Lust, durch den Wald zu laufen und die Bäume zu umarmen. Käthe kommt bestimmt mit nachher. Was immer vorher ist.
Viel hat sie ja nicht dazu gesagt am Telefon. Nur:
„Kommst du mal bitte vorbei?“ Mit ein bisschen merkwürdiger Stimme.
„Bist du krank?“
„Quatsch.“
In Wahrheit heißt sie Katharina Barbara. Tante Käthe möchte gern in deine Gruppe „Lauf!“, stand jedoch eines Tages in einer Benachrichtigung für mich. Das Foto zeigte eine graue Lockenperücke. Ob Frau, ob Mann darunter, war nicht auszumachen. Logg Dich ein, um Tante Käthe zu bestätigen oder abzulehnen. Neugierig ging ich auf die Seite. Geboren 1901 und weiblich. Aha.
Zum nächsten Treff am Waldrand kam sie angetrabt. Klein, drahtig, schwarze kurze Haare. „Tante Käthe“. In ihren dunklen Augen blitzte Schalk und sie verbeugte sich ein wenig.
„Sagt einfach: Käthe.“
„Dann zeig mal, was du kannst“, meinte Renate und joggte, ihren Ulf mitziehend, locker weg. „Hey, ich mach das zu meinem Spaß“, rief sie den beiden hinterher. Dann lief sie los – und gab trotz Gehpausen nach einer halben Stunde auf.
„Ich mach wohl besser weiter Nordic Walking.“
Abends erhielt ich ihre Nachricht: Sei nicht böse. Wenn du willst, bleiben wir weiter in Kontakt.
Ich wollte.
Gemeinsam gingen wir ins Kino und heulten an exakt den gleichen Stellen um die Wette. Sie schleppte mich von Kiedrich bis zum Kloster Eberbach - und schlief im Zug entspannt an meiner Schulter ein. Wir unternahmen eine Fahrradtour quer durch den Bienwald - und flogen beide auf die Nase. Mit ihrer fröhlichen Lebendigkeit riss sie mich mit. Ein heißer Sommer folgte. Ich holte sie zum Schwimmen ab. Als sie die Tür öffnete, war sie vollkommen nackt.
„Ich hab durch den Spion gesehen, dass du’s bist“, grinste sie und als ich zögerte:
„Mal keine Angst, ich stehe nicht auf Frauen.“
In dem Moment ging mir auf, dass ich rein gar nichts von ihr wusste. Zum ersten Mal betrat ich ihre Wohnung. Eine Höhle. Vollgestopft mit Büchern, Bildern, Pflanzen, Einmachgläsern, Wolle. Sie warf sich einen Kimono über und lächelte mich an:
„Seit ich in Rente bin, kann ich so richtig die Hausfrau alter Schule raushängen.“
„In Rente? Ich hab dich gerade nackt gesehen. Du siehst nicht älter aus als ich!“
„Und es ist alles echt“, entgegnete sie stolz und schränkte ein:
„Das heißt: Die Haare sind gefärbt. Ich wollte zwar immer in Ehren grau werden aber dann habe ich gedacht, in Ehren bunt bleiben hat auch was.“
„Und du lebst alleine?“ Ich war nun neugierig.
„Lass uns ins Schwimmbad gehen“, schlug sie vor.
Später lag sie tropfnass an meiner Seite und ließ sich von der Sonne trocknen.
Ich formulierte um: „Wie ist das mit dem Sex und dir?“
Sie setzte sich kerzengerade auf.
„Jetzt schau dir mal die Dicke an da drüben. Meinst du, sie macht es ihm vor aller Welt gleich mit der Hand? Ich mein, befreien muss sie das arme Tier, bevor es ihm die Hose sprengt.“ „Wenn du so weiter schaust, verlangen die noch Geld fürs Zugucken.“ Ich grinste.
„Ich vermisse das“, sagte sie leise.
„Wie lange schon?“
„Seit Jahren. Weißt du, wie das ist, wenn du keinen Partner hast für Sex, aber die Sechs schon vorne dran?“
„Du bist echt schon über sechzig? Mein Gott, hast du dich gut gehalten!“
Sie setzte ihre Sonnenbrille auf:
„Genau das ist mein Problem. Und Selbermachen ist - wie Kitzeln am eignen Leib.“
Sie schleuderte die Brille wieder von sich und sprang davon ins Becken.
Jetzt stehe ich wieder vor ihrer Wohnung. Was sie wohl hat? Wirklich gesund sieht sie mal nicht aus, als sie öffnet. Blass steht sie vor mir, in schwarzem Schlabberpulli und schwarzen Jeans.
„Jemand gestorben?“, frage ich vorsichtig.
„Die Hoffnung“, knurrt sie nur und geht voraus.
In ihrer Höhle ist das Chaos ausgebrochen. Überall stehen Kisten herum. Immerhin, es riecht nach Tee.
„Bin am Entrümpeln“, brummt sie, „mach dir Platz.“
Ihr Sofa ist übersät mit alten Fotos.
„Kamille“, murmelt sie und reicht mir eine Tasse.
Im Hintergrund läuft eine Schallplatte. La femme qui est dans mon lit, verstehe ich.
Dann dringt ihre Stimme ungewohnt leise an mein Ohr:
„Ich gehe ins Betreute Wohnen, Sonja.“
„Bitte was?“ Um ein Haar lasse ich die Tasse fallen.
„Betreutes Wohnen? Du?“
„Ja, ich.“
„Das komische Stift gegenüber vom Waldfriedhof? Ey, da wohnen nur alte Leute und das für viel Geld! Was willst du denn da?“
„Nicht da. Hamburg, Sonja. Weißt du, meine Mutter hatte Osteoporose. Ihr sind nach und nach sämtliche Lendenwirbel gebrochen.“
Sie hält mir einen Packen Fotos vors Gesicht. Ich sehe eine kleine bucklige Greisin ohne jegliche Ähnlichkeit mit meiner Käthe. Hamburg. Lichtjahre entfernt.
„Sie hat wahnsinnige Schmerzen gehabt und am Ende konnte sie sich nicht mehr selbst versorgen. Sie ist im Pflegeheim gestorben.“
„Was hat das mit dir zu tun?“ begehre ich auf.
„Ich mag nicht eines Tages so dastehen wie sie.“
„Ich bin ja schließlich auch noch da …“, setze ich an.
Sie unterbricht mich müde:
„Uns trennen fünfzehn Jahre, Sonja. Und dass ich noch den Mann meines Lebens finde, daran glaube ich nicht mehr. Weißt du, wie verdammt einsam das Leben ist, wenn die meisten in deinem Alter schon richtig alt sind?“
Der Witwer. Sie hatte mir von einem Date mit einem Witwer erzählt, den sie vor einiger Zeit übers Netz kennen gelernt hatte.
„Wie war’s am Freitag?“, höre ich mich fragen.
Sie schaut kurz auf.
„Der war mehr was für dich, rein altersmäßig“, erwidert sie und deutet meinen Blick mal wieder richtig:
„Zehn Jahre jünger als ich. Er war sogar schon hier in meiner Wohnung. Und als er mir die Hosen ausgezogen hat, ist mein Perso rausgerutscht. Da hat er wohl auf einmal Angst gekriegt, beim nächsten Kuss würde mir das Gebiss ausfallen. Jedenfalls hat er auf einmal dringend weg gemusst.“
„Und jetzt gehst du aus Liebeskummer ins Betreue Wohnen“, stelle ich nüchtern fest.
„Tu ich nicht!“, schreit sie mich an.
„Ich geh da hin, weil es vernünftig ist. Basta. Und weil meine Tochter nicht mehr hierher zurückkommt. Aber du weißt ja nicht mal, dass ich eine Tochter habe.“
„Woher denn auch.“
Eine kalte Leere ergreift von mir Besitz. Ich sehe mich aufstehen, ihr die Hand schlaff drücken und alles Gute dabei wünschen. Sehe, wie ich auf der Treppe meinen Mantel anziehe. - Der Aufzug streikt natürlich wieder. - Sehe, wie ich in den Schnee hinaustrete, die Straße überquere. Höre weit hinter mir eine Stimme - ihre Stimme -, ein Auto, einen Aufprall.
Und dann knie ich neben ihr im Schnee, der um sie herum längst nicht mehr weiß ist. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, aber sie versucht ein Lächeln.
„Ist wenigstens ein hübscher Mann über mich drüber?“
Ich schaue auf, sehe einen pickeligen Jüngling in den Schnee kotzen und nicke.
Immer mehr fremde Stimmen und Füße drängen sich um uns. Von ganz weit weg ertönt eine Sirene.
Letzte Aktualisierung: 25.02.2010 - 20.47 Uhr Dieser Text enthält 7026 Zeichen.