Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Agnumamad | März 2010
Lokales
von Barbara Hennermann

Bis zu ihrem fünfzigsten Geburtstag hätte Agneta nicht sagen können, dass sie einen Mann wirklich vermisste. Wenn sie die Ehen ihrer Freundinnen betrachtete, war sie froh, dass ihr das Schicksal keinen beschert hatte. So hatte sie hatte ihr Leben immer nach eigenen Vorstellungen gestalten können und übte ihren Beruf als Lektorin aus, was ihr Freude machte. Der Umgang mit der Sprache war ihr wichtig, sie hasste Dialekte! Zudem ermöglichte er ihr einen Lebensstandard, der ihre Unabhängigkeit garantierte. Natürlich gab es Männer in ihrem Leben, sie war attraktiv, daran lag es nicht. Der „Richtige“ war eben nicht dabei gewesen und so hatte sie keinem hinterher geweint.

Fünfzig aber war die magische Zahl. Die Zahl, die das Alter in greifbare Nähe rückte. In absehbarer Zeit würde sie mit ihrer Unabhängigkeit wahrscheinlich nichts mehr anfangen können. Agneta hatte den Eindruck, dass etwas geschehen müsse. Untätigkeit war ihr ein Gräuel. Also meldete sie sich in einer Partneragentur an. Natürlich im Internet.
Das Ausfüllen mehrerer virtueller Schriftstücke schien ihr ermüdend, war aber notwendig. Schließlich sollte ein „Persönlichkeitsprofil“ erstellt werden, welches dann zur Grundlage wissenschaftlich geprüfter Zusammenführung dienen sollte. Agneta war gespannt.
Schon am nächsten Tag quoll aus ihrem Rechner eine Fülle passender Vorschläge. Alles Männer, die nach „psychologischen Maßstäben“ hervorragend zu ihr passten. Und nicht nur das – sie hatte ja sogar Größe, Gewicht, Aussehen und Essgewohnheiten des „Traumpartners“ vorgeben können! Nun schien ihr doch, dass sie einen großen Teil ihres Lebens womöglich leichtfertig verschenkt hatte. Es war ja wohl etwas anderes, ob man per Zufall dem Manne über den Weg läuft oder aber gezielt einen aussuchen konnte! Fast wie am Grünen Markt … Nehme ich heute Radieschen oder lieber einen Rettich?

Die Teilnahme war nicht billig, also hieß es, sofort ordentlich davon Gebrauch zu machen. Agneta schrieb die ersten fünf Vorgeschlagenen an, deren „Matchingpunkte“ eine fast identische Übereinstimmung mit ihren eigenen Vorstellungen ergaben. Ein Hoch der Wissenschaft!
Der erste meldete sich schon am gleichen Tag. Er sei „vital“ und lebe „momentan noch in einer Beziehung, die mich nicht erfüllt“. Ob Agneta auch so „unkonventionell“ wie er sei und „Spaß an Sex“ habe. Agneta drückte auf „löschen“.
Der nächste Tag verlief still. Am dritten Tag meldeten sich gleich zwei Kandidaten. Einer schrieb, er wäre „distinquiert, aber nicht altmodig“. Auch hätte er „ein Paar Pfund zufiel“ was aber der Liebe keinen „Abruch“ täte. Um Himmelswillen! Agneta schüttelte sich angesichts der Rechtschreibfehler wie ein nasses Kätzchen. Und löschte schleunigst ...
Der andere suchte „auf diesem Wege eine Frau, die frei von Vorbehalten ist und auch mal was Neues (Gummi?) ausprobieren will“. Agneta hatte Vorbehalte und löschte.
Die nächsten zwei Wochen versanken in Stillschweigen. Agneta begann zu befürchten, den Monat Teilnahme umsonst bezahlt zu haben. Dann meldete sich der vierte. Sein Anschreiben war kurz und sachlich. „Bei der Übereinstimmung unserer Matchingpunkte halte ich es für sinnvoll, wenn wir uns rasch persönlich kennen lernen, um dies vor Ort zu überprüfen.“ Das war ein Ton, den Agneta schätzte. Sie reiste zur diesbezüglichen Überprüfung am Wochenende über zwei Stunden mit der Bahn vom Oberfränkischen ins Badische. Besser so, als ihn bei Nichtgefallen womöglich an der Backe zu haben!
Am Bahnsteig entdeckte sie einen älteren Herrn, der mit der Selbstbeschreibung im Vorstellungsthread – „stattlich, braune Haare, durchtrainiert“ - übereinstimmte. Sie lief auf ihn zu, als sie von hinten jemand am Ärmel packte. „Du bisch gwies die Agneda?“ Sie drehte sich um. Der Herr hinter hier war einen Kopf kleiner als sie, hatte ungefähr fünfzehn Kilo Übergewicht und die letzten braunen Haarsträhnen kunstvoll über die verlängerte Stirnpartie drapiert. Zum ersten Mal in ihrem Leben verleugnete sich Agneta und eilte in das Bahnhofslokal. Glücklicherweise fuhr eine Stunde später ein Zug zurück.

Zu Hause fuhr sie den Rechner hoch. Natürlich konnte sie weitere Angebote anschreiben, aber eigentlich hatte sie erwartet, dass sich auch bei ihr jemand melden würde. Sicher bekamen die Männer ja die gleichen Übereinstimmungslisten wie sie? Warum also saßen die alle in ihren Höhlen wie zur Steinzeit und warteten darauf, dass Frau die Initiative ergreift?
„Sie haben neun neue Mails“. Die Computerstimme machte sie aufmerksam. Nein, keine Nachfragen! Aber eine letzte Antwort, Nummer Fünf. Na bitte, immerhin das ging! Antworten konnten sie also, die Steinzeitler.
„Werte Dame, unsere Lebenslinien scheinen aufeinander zuzulaufen. Wollen wir ihnen entgegen gehen?“ Das klang gut. Und, Agneta sah es mit Freuden, er kam aus ihrer Gegend! Aber sie wollte nichts überstürzen. Lieber erst mal mehr voneinander erfahren, bevor man sich traf.
Die Mails liefen hin und her. Agneta entdeckte neue kesse Seiten an sich. Sie tauschten kleine Sprachspielereien aus. Teekesselchen. Palindrome. Neuschöpfungen. Vordergründige. Und hintergründige … Und eines Tages fragte er sie, ob sie nicht mit ihm Schach spielen wolle – er selbst sei da in einem Forum, allerdings unter einem Decknamen. Schach, das Spiel der Könige! Wie lange hatte sie es nicht mehr gespielt? Natürlich wollte sie.
Als Nick wählte sie „Aurora“, denn genauso fühlte sie sich in der letzten Zeit. Er nannte sich „Agnumamad“. Entzückend fand sie diese Wortschöpfung, ungewöhnlich, originell! Nach drei Wochen war sie es, die ihm die Frage schickte: „Wollen wir uns nicht einmal real begegnen?“ Die Antwort kam prompt: „Da warte ich schon drauf!“

Es musste etwas Besonderes werden, dieses erste Treffen. Agneta sinnierte lange. Dann hatte sie die zündende Idee. „Wie wäre es, wenn wir uns im Schachklub treffen? Ohne Worte? Und nur am Spielen erkennen?“ „Sehr romantisch! Einverstanden!“ schrieb er zurück.

Der Raum war nicht allzu groß, acht kleine Tische mit Schachbrettern. Agneta hatte vorbestellt.
Sie setzte sich an den ersten Tisch, einem Herrn mit grauen Haaren und wachen blauen Augen gegenüber. Nach dem dritten Zug wurde ihr klar, dass er es nicht sein konnte. Er spielte ganz anders, als sie es aus dem Schachforum kannte. Agneta spielte unkonzentriert und verlor. Egal! Sie war nicht zum Gewinnen gekommen.
Der zweite Tisch war ebenfalls ein Reinfall. Zum Glück, wie sie sich heimlich sagte. Denn ihr Gegenüber glich einer alten Eule und spielte so verbissen, als hinge sein Leben davon ab. Agneta wechselte erleichtert zum dritten Tisch, nachdem sie die Eule hatte gewinnen lassen.
Wieder ein Herr. Sie musterte ihn unauffällig. Nicht unsympathisch, der Typ! Randlose Brille, hohe Denkerstirn, kleines weißes Bärtchen, freundliche braune Augen. Sie betete, er möge es sein …
Erster Zug. Unauffällig. Zweiter Zug. Na? Ob das was wurde? Dritter Zug. Hm. Vierter Zug. Hm hm. Agneta spielte sich ein. Konzentriert. Da! Angriff! Nun musste sie etwas sagen. „Schach!“ Sie sah hoch. Er grinste.
Und dann hörte sie zum ersten Mal seine Stimme, eine sehr sympathische Stimme übrigens. Und er sagte: „A gnuma. Mad.“ *



* Übersetzung ins Hochdeutsche (für Nichtfranken): „Angenommen. Matt.“

Letzte Aktualisierung: 21.03.2010 - 23.28 Uhr
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