„So geht es nicht weiter!“ – Immer eine gute Erkenntnis.
„Alles auf Anfang!“ – Auch dieser Wunsch ein wichtiges Signal.
Doch nichts ist schwerer als eine vollständige Umkehr!
Es scheint, als sei sie für manchen von vornherein schier unmöglich:
„Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie“, aber damit hat es sich auch schon. Er bleibt der ewige, nie im Regen Zagende. Ob er vielleicht auch bei Sonnenschein so mannhaft sein wollte oder mal gerne einen anderen Begleiter hätte, zum Beispiel einen Esel – Wen kümmert’s? Oder dieser Esel: Befiehl ihm ein „Lese, Esel!“, und schon liest er und liest und möchte etwas anderes tun, vergebens. Nie kommen sie aus ihrer Tretmühle heraus, der Schwarze und der Esel. Auch ein Reliefpfeiler oder ein Rentner haben keine Chance: Sie können sich drehen und wenden, wie sie wollen, und bleiben dennoch zeitlebens ein Reliefpfeiler oder ein Rentner.
Ganz anders ein Nebel, ein Regal oder ein Eber.
Oder selbst ein Agnumamad.
So schwarz seine Seele auch sei.
***
„So geht es nicht weiter“, dachte der böse Agnumamad in einem seltenen Moment von Einsicht, wenn nicht gar Schuldbewusstsein. Ein zartes Stimmchen wisperte irgendwo in seinem großen, zotteligen Kopf: „Genau! Es muss sich etwas ändern!“
Agnumamad, der Bösewicht, wischte eine dicke Träne aus dem finsteren Gesicht, hob hilflos die riesigen Pranken gen Himmel und rief voller Gram: „Aber wiieee?“
Danach fiel er wieder zurück auf seine vier stämmigen Läufe und seine Seele schmerzte.
„Du musst zum Anfang zurück. Als du noch nichts Übles verbrochen hast!“
War es das Stimmchen in seinem verzweifelten Hirn oder hatte inzwischen ein Wolf-Flüsterer aus höheren Sphären diese Rolle übernommen? Der Himmel war leer. Kein Vogel, nicht mal eine Wolke, so sehr der finstere Agnumamad auch Ausschau hielt.
„Was muss ich tuuun?“
Selbsterkenntnis ist immer gut. Umkehr noch besser. Es gab tatsächlich kein Wesen, das es an Schlechtigkeit mit Agnumamad aufnehmen konnte. Alles Böse der Welt schien sich in diesem einen Scheusal vereinigt zu haben. Keine Lüge, die er nicht von sich gegeben hätte, keine üble Nachrede, keine sonstige Gemeinheit, die er nicht vorgebracht und begangen, kein Versprechen, das er nicht gebrochen hätte. In seinem ständig wechselnden Umkreis kein Lamm, das er nicht gerissen, kein Bauer, den er nicht beraubt und keine Wölfin oder Hündin, die er nicht geschändet hätte. Die Liste wäre lang, die alle Verbrechen aufzählen wollte. Längst war die kritische Masse an Boshaftigkeit und Verkommenheit überschritten. Oh ja, der böse Agnumamad trug seinen Namen zu recht.
Aber nun lag er auf dem Patienten-Moosbett der weisen Herlinde, von jener Stimme schnurstracks zu ihr geführt. Herlinde, die sich vom so genannten weltlichen Leben zurückgezogen hatte. Die steinalte Eule, von der es hieß, sie sei sowohl in Dingen der Esoterik und des Karmas als auch in Sachen Weltreligionen und Tiefenpsychologie bewandert wie sonst niemand. In ihr Gravitationsfeld war der Lump geraten. Bei seinem Anblick war sie furchtlos aus ihrer Baum-Eremitage geglitten, als wüsste sie bereits, was und wer den Hilfesuchenden zu ihr geschickt hatte. Ein Marschbefehl ist das eine, Gehorsam aber das andere. Und weil der böse Agnumamad sich in seiner Not doch wahrhaftig auf den Weg gemacht hatte, lag er nun zu Füßen der gesegneten Alten und fragte sich bangen Herzens, ob sie ihn erlösen und ein besseres Geschöpf aus ihm machen könne.
Es heißt, Eulen seien ein Symbol für Weisheit. Und wie ein billiger Spottvogel sah Herlinde nicht aus. Der Blick der mit ausgebreiteten Flügeln vor Agnumamad sitzenden Einsiedlerin bohrte sich starr und tief in den seinen. So tief, dass er meinte, in den Abgründen der uralten Augen zu versinken. Wie aus weiter Ferne erscholl ein dem heiligen brahmanischen Om nachempfundenes „Huuuh!“. Mit ihm begann die Therapeutin für gewöhnlich ihre Arbeit, die letztlich in eine schrittweise Rückführung in frühere Leben münden würde, ihrem Allheilmittel in schweren Fällen wie diesem.
„Ich beginne jetzt mit der Hypnose und zähle von Zehn abwärts. Du wirst in einen tiefen, entrückten Alfazustand sinken. Bei Eins bist du völlig entspannt und spürst deinen Körper nicht mehr. – Zehn – Neun – Acht …“
Agnumamads Lider schienen aus Bleigewichten zu bestehen und bald wusste er nicht mehr, ob er wachte oder träumte.
„Sieben – Sechs – Fünf …“
Auch seine Glieder wurden schwerer und schwerer. Bald wähnte er sich unter dem Moos liegend, bald über ihm schwebend. Bei Drei versank die Welt und bei Zwei auch der Himmel. Bei Eins sah er sich, wie in Trance, unten auf dem Boden liegen. Das Bild flimmerte, wurde instabil. Wer war das da unten? War das noch er?
Ein wenig krächzend, ihn jedoch wie ein Schaumbad umschmeichelnd krochen Fragen auf Fragen durch seine langen, ungepflegten Haare und an seinen Lefzen hoch bis in die schmutzigen Ohren, untertunnelten den Verstand und bauten ein Lager in seinem wölfischen Unterbewusstsein. Eine nie gekannte Ruhe überkam ihn. Aller Lasten ledig, fühlte er sich leicht und von drückender Enge befreit wie ein geschorenes Schaf.
„Schau nun auf deine Füße! Was siehst du?“
„Sie sind wie kleine, zierliche Silberbällchen.“
„Was trägst du denn für Haare?“
„Mein Fell ist fein gesponnen wie aus Seide.“
„Wie alt bis du wohl?“
„Vierzehn.“
„Kennst du deinen Namen?“
„Damamunga.“
„Weißt du, wie das Land heißt, in dem du wohnst, Damamunga?“
„Königreich Tarlean.“
„Was schreibt ihr denn für eine Jahreszahl nach christlicher Zeitrechnung?“
„Sechzehnhundertvierundsiebzig.“
„Sag, Damamunga, wo befindest du dich jetzt, wenn ich bis Drei gezählt habe?
Eins – Zwei – Drei!“
„Auf einem Hügel. Unter mir sehe ich eine Ebene mit Feldern und Gehölzen.“
„Jetzt gehe in dein Zuhause, Damamunga. Kannst du es beschreiben?“
„Eine geräumige Höhle zwischen Baumwurzeln und Steinblöcken.“
„Und wer ist bei dir?“
„Neben mir sitzen meine Mutter und meine Schwester.“
„Wer noch?“
„Mein Vater ordnet die Reihen der vielen Lebewesen, die auf meine Hilfe warten.“
„Woraus besteht sie?“
„Ich heile Wunden, gebe Rat, verteile Speise und Almosen und tröste die Weinenden.“
“Was sagen deine Eltern dazu?“
„Sie sagen: ’Du hast ein unschuldiges, reines Herz, Damamunga, und bist gütig zu jedermann’.“
„Wie alt bist du zwei Wochen vor deinem Tod, Damamunga? Sag es bei Drei.
Eins – Zwei – Drei!“
„Neunzehn Jahre“.
„Und jetzt erzähl mir auf Drei, wie es dir gleich nach deinem Tod ergeht.
Eins – Zwei – Drei!“
„Ich sehe, wie Vater und Mutter mich auf einer Wiese abholen. Und hinter ihnen öffnet sich ein strahlendes Licht.“
„Das ist genug. Ich möchte, dass du aufwachst, wenn ich vorwärts bis Zehn gezählt habe!“
Bei Zehn richtete sich Agnumamad auf und blickte erstaunt die weise Herlinde an. Langsam
wurde er wieder eins mit sich selbst und seiner Zeit. Fühlte einen Frieden, der die vorangegangenen Schmerzen in süßen Honig tauchte. Ums Herz war ihm so leicht, als sei er die Feder einer von ihm unerlaubt gerupften Gans. Wenigstens für den Augenblick.
„Ich habe dich rückwärts geführt, Agnumamad! Es gab eine Zeit, da warst du nicht das Böse unter unserer Sonne, sondern hattest ein gutes Herz für alle, die in Not waren. Kranke heiltest du und tatest niemandem ein Leid. Du warst das Gegenteil des jetzigen bösen Agnumamads: das gute Damamunga.“
Dem allmählich Begreifenden wurde schwindelig. Er, einmal einer von den Guten gewesen? Nicht nur anders als heute, sondern das Gegenteil? Kein Räuber oder Betrüger, sondern ein Helfer und Heiler? Viele Fragen, zu denen sich immer neue hinzugesellten. Die alte Klausnerin wusste auf einige die Antwort.
„Schau, Agnumamad, es gibt dich und den Anderen, solange sich die Welt dreht. Als die Sintflut kam, überlebtet ihr beide, denn Noah nahm euch als Pärchen mit. Du kannst dir kaum vorstellen, wie aufregend es in der Arche zuging, aber allen Schaden, den der eine anrichtete, machte der andere wieder gut. Ihr wart, wenn ich mir den kleinen Scherz erlauben darf, sozusagen die Archetypen von Gut und Böse. Und seid es immer noch. An Land gesetzt, wurde der Agnumamad damals sesshaft, während das Damamunga in die Ferne zog und lange als verschollen galt. Doch beider Linien setzten sich fort. Du bist Agnumamad und trägst dennoch das Damamunga in dir. Es ist wichtig, dass du das nicht vergisst!“
Agnumamad mochte fragen, so viel er wollte, die weise Herlinde klappte, einer alten Echse gleich, ausdruckslos und endgültig die Augen zu und erstarrte zu einem Monument ewiger Meditation. Nach langem, vergeblichem Warten verließ Agnumamad den Ort. Auf freiem Feld angekommen, hob er erneut seine Pranken nach oben:
„Und nuuuun?“ Doch jene leise Stimme versagte sich jeden Hinweis auf seinen weiteren Weg. Ließ offen, wer oder was seinen Fuß leiten würde. Verschwieg, ob der böse Agnumamad oder das gute Damamunga überwiegen oder es gar ein unentschlossenes Hin und Her zwischen beiden Polen geben würde.
Wolken zogen auf und ein leichter Windhauch trug die Stimme mit sich fort …
… und trug ein einsames „Määäh!“ an sein Ohr, wo es Wellen schlug wie ein Kieselstein. Aus dem Kieselstein formte sich ein Lämmchen, das in Agnumamads Instinkten versank, um sich darin nachhaltig zu manifestieren. Eine Schlacht hob an, gelenkt und beobachtet von zwei Feldherrnhügeln. Einem aus den Neuronen und Synapsen des alten Denkens und einem aus dem feinen Gespinst der Seele. Dazwischen das geängstigte kleine Wesen, verzweifelt eine weiße Fahne schwenkend.
Agnumamad schaute umher. Und dort hinten, vielleicht zwanzig Schritte entfernt, befand es sich tatsächlich, in Fleisch und Blut und Haut und Fell. Ein kleines, schneeweißes Lamm, verstrickt in den Ranken einer Weißdornhecke, zur Flucht außerstande und voller Todesangst. Langsam setzte sich Agnumamad in Bewegung.
Letzte Aktualisierung: 07.03.2010 - 15.15 Uhr Dieser Text enthält 10049 Zeichen.