Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Agnumamad | März 2010
Steppenwind
von Michael Pick

Agnumamad ist der Wind, der über die mongolische Steppe jagt. Großvater sagt, auf ihm reiten die Geister unserer Ahnen. Agnumamad legt sich unter die Schwingen des Steppenadlers und streichelt die Mähne von meinem Pferd.

*

Ich harrte auf dem Hügel, der das Jurtendorf beherrschte. Das Zelt meiner Großeltern stand in der Mitte. Linker Hand das von Yurtcu, dem Wolf. Wir nannten ihn so, weil er schon als junger Mann graue Haare hatte. Auf der anderen Seite standen die Jurten meiner Onkel. Und dann die große Pferdeherde. Gegenwart und Zukunft meines Stammes.
Große Worte, dachte ich und beobachtete den Adler. Zwei, drei Flügelschläge brachten ihn in die Nähe der Sonne. Unbeirrt zog er Kreise über der Steppe. Er wusste um Anfang und Ende seines Fluges.
Ich war wie Agnumamad. Wechselte die Richtung wie ein flüchtender Hase. Ich kannte meinen Anfang – doch wo würde mein Flug enden?

*

Bato, der Karawanenführer, brachte heute früh das Brennholz. Für ein klares Feuer, statt dem rauchgeschwängerten aus Yakdung. Auf Batos Oberlippenbart lag Morgentau, als er die Jurte meines Großvaters aufsuchte. In seinen Händen trug er einen Brief, den er mir mit niedergeschlagenen Augen überreichte. Als ich ihm das Schreiben der Universität von Ulan-Bator abnahm, war es, als hätte ich ihm einen Felsen aus den Händen genommen.
Großvaters Blick spürte ich auf meinem Rücken, während Großmutter die Milch über der Feuerstelle rührte. Kein Wort. Ich nahm den Weg auf den Hügel und wartete auf Agnumamad.
Es gab eine Zeit, da war mein sehnlichster Wunsch Sport zu studieren. Ich wollte Lehrer werden, egal was, nur raus aus diesem Dorf. Fort von den Rentieren, von der Enge der Jurte. Von dem Rauch des Dungfeuers, der mich ersticken wollte. Alles wurde mir zuwider: das Melken, die Jagd, Viehtreiben, Umzüge.
Dagegen stand in meinem Kopf Ulan-Bator. Ich stellte mir die Stadt wie ein Meer vor. Überschwappend, heiß und kalt. Lichter und – Leben. Ulan-Bator war Leben. Und Ulan-Bator saß auf einem Sockel wie eine schöne Frau und bewegte sich nicht.
Der Brief brannte in meiner Tasche wie glühende Kohle. Agnumamad trug den Steppenadler zu seinem Horst. Der Wind streichelte mein Haar, liebkoste die Nüstern meines Pferdes. Erzählte mir Geschichten von meinen Ahnen. Sein Hauch war Zauber in meinen Ohren und in meinem Herzen.
Der Brief lag ungeöffnet in meiner Hand. Ich sah die Antwort in Großmutters Augen. Das Feuer flackerte kalt in ihren Augen. Es war die Angst, die sie mir niemals zeigen wollte. Ihr Lächeln kam aus dem Herzen und brach das meine.

*

Der Steppenadler verschwand am Horizont. Ich nahm den Brief aus der Tasche. Agnumamad nahm die Schnipsel auf seinen Rücken und trug sie in meine Steppe.

Letzte Aktualisierung: 04.03.2010 - 17.58 Uhr
Dieser Text enthält 2733 Zeichen.

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