Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
„Verflucht!“ Mara strich sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht und blickte aus dem Schutz der bis zum Boden herabhängenden Zweige auf eine Lichtung. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie war so nah dran, sie wusste es. Reglos blieb sie stehen und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Die Geräusche des Urwaldes drangen auf sie ein – das Schreien der Affen, das Sirren der Insekten, rasche Flügelschläge der Vögel.
Die Lichtung lag vor ihr, nicht sehr groß. Sie zu umgehen würde dennoch viel Zeit kosten. Mara müsste den Pfad verlassen, das Dickicht durchdringen mit ihrer Machete. Doch ihre Muskeln schmerzten. Einen Moment schloss sie die Augen, fühlte, wie die feuchtheiße Luft durch Nase und Hals in ihre Lungen drang. Gleichzeitig stieg ihr Wille noch einmal auf und hieß sie loszustürzen.
Ihr Rucksack holperte auf und ab, behinderte sie beim Laufen. Aber er schützte sie ein wenig vor den Pfeilen, die ihr hinterher zischten. Schon nach ein paar Metern fing sie an zu keuchen. In ihrer Brust stach es, in der Seite zog es, die Beine fühlten sich immer schwerer an. Ein Büschel Gras brachte sie zum Straucheln. Sie fing sich. In ihren Ohren pochte ihr Blut so laut, dass sie die Pfeile kaum surren hörte. Dennoch musste einer ihren Rucksack getroffen haben. Vier Sprünge weiter hatte sie das Ende der Lichtung erreicht. Hinter sich vernahm sie das enttäuschte Geheul der Angreifer.
Der Dschungel umschloss sie augenblicklich und verbarg sie vor den Augen der Pydrigenas, deren Krieger sie seit Beginn verfolgten, manchmal auch vor ihr waren und Fallen stellten, denn sie kannten ihr Ziel. Immer wieder wunderte Mara sich, dass sie noch lebte, denn die Pydrigenas waren im Urwald zu Hause, wussten jede Deckung zu nutzen und kürzere Wege zu finden.
Es konnte nicht mehr weit sein, dann hätte sie das Heiligtum der Pydrigenas, die goldene Sonne des Mydanga – des Regenwaldes – erreicht. Sieben Tage hatte sie bis hierher gebraucht. Eine heiße, feuchte, einsame und gefährliche Zeit.
Vom Rucksack entfernte sie den Pfeil. Ein wenig zitterten ihr die Hände. So knapp war es noch nie. Nach vorn, nur nach vorn. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Trinkflasche. Warm und abgestanden füllte das Wasser ihren Mund und rann durch ihre Kehle. Die fast leere Flasche hängte sie sich wieder um den Hals, den Rucksack schulterte sie. Mit dem Handrücken fuhr sie sich noch über die Stirn. Mehr Verschnaufpause wollte sie sich nicht gönnen.
Entschlossen schritt Mara vorwärts auf dem kaum erkennbaren Pfad. Die Pflanzen griffen bei jeder Bewegung nach ihr und kratzten an den Hosenbeinen. An den Armen trug sie die Spuren bereits in vielen kleinen roten Krusten. Nicht mehr weit.
Etwa eine Stunde schritt sie weiter. In Abständen blieb sie stehen und lauschte. Manchmal waren ihre Gegner nicht schnell genug. Dann vernahm sie leises Rascheln. Sehen konnte sie niemanden.
Als sie das nächste Mal innehielt, schienen sogar die Tiere einen Moment zu schweigen. Bevor sie genau wusste, was geschah, ahnte sie die Gefahr und warf sich auf den weichen Boden. Die Trinkflasche drückte ihr schmerzhaft in den Bauch. Der zischende Pfeil verlor sich im Dickicht. Die Pydrigenas waren näher denn je, sie konnte es hören, wie sie durch den Wald heranjagten, ohne auf die Zweige Rücksicht zu nehmen.
Mara rappelte sich auf und rannte los. Ihr Vorsprung war knapp. Weiter! Schneller! Nach vielleicht fünfzig Metern endete der Weg an einer undurchdringlich scheinenden Blätterwand. Mechanisch griff sie nach der Machete, holte mit dem Arm aus – und traf auf Stein. Das Metall der Machete klang nach. Der klirrende Ton drang von den Ohren über alle Fasern bis in ihr Herz. Mara tastete in die Blätterwand hinein und berührte dabei einen rauen Felsen. Ein Monolith. Ein riesiger Felsbrocken mitten im Urwald. Mitten im Mydanga. Sie konnte es nicht fassen, sie war am Ziel ihrer Reise.
Gehetzt blickte sie um sich. Zum ersten Mal konnte sie ihre Verfolger sehen. Einen Kopf kleiner als sie, nahezu unbekleidet formten sie einen Halbkreis, teilweise verdeckt von den Blättern. Ihre dunklen Augen starrten sie an. Mara tastete nach dem Stein, hielt sich daran fest. Und wartete.
Nichts geschah. Die Pydrigenas rührten sich nicht. Mara wurde ruhiger. Wer vor dem Heiligtum steht, ist unantastbar! Dennoch verharrte sie noch minutenlang mit dem Rücken zu dem Stein. Erst dann löste sie sich langsam. Die Pydrigenas sind Teil des Urwaldes, sie hatten sie mit allen Mitteln abhalten wollen, das Ziel zu erreichen. Als Wächter der goldenen Sonne. Jetzt hatte sie bewiesen, wie stark ihr Wille ist. Sie musste lächeln. Damit verlor der Urwald das Bedrohliche.
Tief atmete Mara ein. Kraft strömte in sie, vertrieb die Mattigkeit. Hörbar blies sie die Luft durch ihre Lippen wieder hinaus, mischte den Ton unter die gewöhnlichen Laute der unzähligen verborgenen Lebewesen und blickte offen in die Gesichter der Pydrigenas.
Sie wandte sich um. Ihre Finger glitten vorsichtig über die spröde Oberfläche. Es hieß, wer sein ganzes Sehnen auf die goldene Sonne des Mydanga richtete, würde den Weg finden, könne alle Gefahren überstehen und am Ende das steinerne Tor öffnen. Hinter ihm lag das Geheimnis, das sie als Kind schon in den Erzählungen ihrer Amme fasziniert hatte.
Immer weniger Menschen machten sich auf den Weg, für viele war es nur noch ein Mythos. Die meisten, die suchten, starben unterwegs, denn sie trieb nur die Gier nach Gold.
Mara aber wusste, dass es wahr war. Sie brauchte kein Gold, sie war nicht einmal für sich selbst hier. Ihre Hoffnung war das Elixier des Lebens für ihr Kind. Miguel, der nur noch wenige Wochen zu leben hatte.
Mara ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Sie sammelte sich, legte die Hände auf den Stein und sprach: „Agnumamad!“