Urzeit war es, da Ymir hauste
nicht war Sand noch See noch Salzwogen
nicht Erde unten, noch oben Himmel
GĂ€hnung grundlos, doch Gras nirgends
(Edda)
Ginnungagap war der mit magischen KrĂ€ften erfĂŒllte Urraum. Ginnungagap war die Mutter aller KlĂŒfte, der Schlund der SchlĂŒnde. Und schon dieser Abgrund gĂ€hnte, genau wie alle anderen nach ihm.
Was aber selten erwĂ€hnt wird, war die Tatsache, dass SchlĂŒnde allein nicht zu existieren vermögen. Es musste immer etwas geben, in das sie sich eintiefen, aus dem heraus sie gĂ€hnen können. In diesem Fall konnte man sich beidseitig eine fast brettebene Felslandschaft vorstellen, deren höchste Erhebungen aus zerborstenem Gestein vielleicht nicht höher als eine Handbreit emporragten. Bewachsen war dieses abweisende, freudlose Land mit Algen, Flechten und Moosen.
Weniger langweilig ging es in Ginnungagaps Tiefen zu. Am sĂŒdlichen Ende lag das glĂŒhende Muspelheim, das eisige Niflheim fand dagegen im Norden seinen Platz. Muspelheims Glutströme rannten gegen Niflheims Eiszungen an. In diesem Chaos entstanden die einen oder anderen Ungeheuer. Soviel zu unten.
Im Gegensatz zur Aussage aber musste es oben doch schon einen Götterhimmel gegeben haben, denn auch dort tobte das Leben. Gott Bor hatte es mit seiner Frau, der Riesin Bestla, immerhin schon zu drei Söhnen gebracht, Odin, Vili und Ve, wobei letztere mindestens schon die dritte Generation darstellten. Gott Bor hatte also ĂŒberhaupt kein Interesse daran, an den ZustĂ€nden auf dem trostlosen Land etwas zu Ă€ndern. Dennoch wurden aus Ginnungagaps Tiefen Forderungen laut, als Gott möge Bor doch das wertlose Land besser nutzbar machen! Um vor dem im UnergrĂŒndlichen hausenden GezĂŒcht seine Ruhe zu haben, lieĂ Bor sich auf ein ZugestĂ€ndnis ein, beorderte eine Ameise zu sich und beauftragte sie mit den geforderten VerĂ€nderungen. Auf diese Weise dachte er, sich geschickt aus der AffĂ€re gezogen und dennoch alles beim Alten gelassen zu haben.
Er kannte Tetramorium agnum nicht!
Die winzigen Agna also krochen aus dem Schlund und stĂŒrzten sich mit Elan in ihre herkulische Aufgabe. Direkt neben Ginnungagaps Grundlosigkeit hĂ€uften sie aus Steinchen und Flechtenresten ihren ersten Wohnsitz auf. In der lockeren Schichtung ihres Haufens fanden auch aus dem Schlund empor gewirbelte Samen unempfindlicher KrĂ€uter zufriedenstellende Lebensbedingungen. Diese wurden insbesondere dann besonders gut, wenn im Bodenlosen der Kampf am heftigsten tobte, dann nĂ€mlich wallte dichter Nebel empor und trĂ€nkte die Saaten. Der Ameisenstaat gedieh und wĂ€hrend Tetramorium agnum sich einerseits nach oben wohnte, verbreiterten die Tochtervölker die Basis.
Die Agna erfĂŒllten getreulich ihre Aufgabe zur VerĂ€nderung des desolaten Landes. GegenĂŒber einem tiefen Abgrund bedeutete ein Berg nun einmal den allergröĂten Wandel. Zu einem groĂartigen HĂŒgel hatten sie es inzwischen schon gebracht. Durch ihre ruhelose Betriebsamkeit war es unterdessen doch zur Sandbildung gekommen, dieser fĂŒllte am FuĂ des HĂŒgels in den verlassenen, alten Bauten jede Ritze und festigte den im Entstehen begriffenen Berg, auf dessen Gipfel und Flanken die Agna ackerten. LĂ€ngst erfreute ihr Werk das Auge mit den verschiedensten GrĂŒntönen, denn siehe da, neben KrĂ€utern und jungen BĂ€umen war endlich auch Gras gewachsen. Noch bevor die Weltesche Yggdrasil zu ihrer Reife gelangt war, lockte diese von den Ameisen geschaffene, verblĂŒffende Speisekammer die Ziege Heidrun und den Hirsch Eikthyrnir an. Auch das Eichhörnchen Ratatosk strolchte hier herum, bevor es auf Yggdrasil eine neue Aufgabe wahrnahm.
Gott Bor indes erfĂŒllte der unerwartete Erfolg der Ameisen eher mit Missfallen, fĂŒrchtete er doch, die Kreaturen aus Ginnungagaps Abgrund könnten diesen verlassen und sich weiter oben, so dicht an seinem Wohnsitz tummeln. Er stiftete Ymir, den Eisriesen, an, das Land mit seinem Eis zu ĂŒberziehen. Da aber empörte sich Sohn Odin, stellte sich Ymir zum Kampf, besiegte ihn und warf ihn in die Bodenlosigkeit. Ymirs Eis schmolz und half als Wasser das Land fruchtbarer zu machen. Nun war Odin in Asgard an der Macht. Davon unbeeindruckt, schufteten die Agna weiterhin unverdrossen an ihrem HĂŒgel, aus dem langsam aber sicher ein Berg wurde. Andere heilige Tiere, wie das Ross Sleipnir und die goldenen Eber Gullinborsti und Hildeswin, zog es jetzt ebenfalls zum Berg Agnumamad.
Denn welcher Name könnte passender sein fĂŒr den von Tetramorium agnum geschaffenen Berg?
Letzte Aktualisierung: 01.03.2010 - 10.44 Uhr Dieser Text enthält 4474 Zeichen.