Rudolf stemmte den Karton durch die Haustür. Der Fluch, den er dabei kaum hörbar in sich hineindrückte, wurde zu einem bedrohlichen Grollen.
„Was ist das?“, lugte Karin um die Ecke der Tür zur Küche.
„Nix“
Er trug das Ding von der Größe einer Umzugskiste vorbei in das hintere Zimmer, wo sie all den Krempel aufbewahrten, der nicht in irgendeine Schublade oder einen Schrank einzuordnen war.
Mit der Zeit war der Raum zu einer verdreckten Rumpelkammer verkommen. Seit sie Mutter ins Heim brachten, wurde hier drinnen nur noch abgeladen. Direkt an der Tür rechts stand eine Kiste Bier. Fast unterbewusst stellte Rudolf mit einem vorbeischweifenden Blick zufrieden fest, dass für das bevorstehende Wochenende noch genug Bier im Haus war. Links versteckte sich eine Kommode unter einem verdreckten Teppich, direkt neben einem Bett, auf dem ein vergilbter Bezug unzureichend von einem zusammengeklappten Tapeziertisch verdeckt wurde.
Genau darauf wuchtete er den Karton.
Es fiel ihm auf, dass auf die Seite jemand mit einem breiten Stift das Wort Agnumamad geschrieben hatte.
Er schwitzte. Vier Stockwerke hoch hatte Rudolf den Kram getragen. Während sein Blick immer noch auf der merkwürdigen Aufschrift ruhte, setze er sich auf einen verstaubten Stuhl und griff in den Bierkasten. Geschickt öffnete er mit einem Feuerzeug eine der Flaschen und setzte sie an den Mund. Während er glucksend trank, hatte er immer noch die Buchstaben auf dem Karton im Auge.
AGNUMAMAD
„Stimmt, den hatte ich mit dem Kram von Mutter gepackt“, ging es ihm durch den Kopf. Um die Ecke beim Türken gab es immer Kartons. Die standen eine Zeitlang vor dem Laden schräg in einem Regal, mit Salatköpfen, Blumenkohl oder Paprikaschoten bestückt, und wenn sie leer waren, holten sie sich die Leute, um darin Papierabfälle bis zum Abholtermin der Müllabfuhr zu sammeln.
Rudolf nahm noch einen großen Schluck.
„Rudi…..!?“ Es kostete ihn Mühe, aufkommenden Unmut zu unterdrücken.
„Hast du was bei den Sachen gefunden?“ – „Rudi?“ Karins Stimme wurde immer so schrill, wenn sie zwischen klapperndem Schüsselrücken und Bestecksortieren ziellos einfach in die Wohnung nach „RUDI“ plärrte. Das ging ihm fürchterlich auf die Nerven. Er setzte nochmals an und schob dann die leere Flasche in die Kiste zurück.
„Mein Gott Karin, hast du nix anderes im Kopp, wie immer nur die Kohle?“ Mehr eine Feststellung als eine Frage erwartete er nicht einmal eine Antwort und ging an der kleinen Küche vorbei aufs Klo.
Karin hörte die Wasserspülung und setzte nach: „Was haben die im Heim denn gesagt?“
„Was sollen die schon gesagt haben“, Rudolf steuerte die Rumpelkammer wieder an. „wir sollen morgen vorbeikommen und den Papierkram erledigen“. Während er einer weiteren Flasche den Kronkorken vom Kopf riss, rief er über die Schulter hinweg seiner Frau zu: „beim Beerdigungsfritzen war ich auch schon. Die erledigen alles.“
AGNUMAMAD
„Blödes Wort, was heißt das eigentlich?“ Rudolf rätselte noch eine Weile am Sinn der Buchstabenreihe herum. „Nix“ – „Völlig sinnlos. Wer schreibt so einen Quatsch auf nen Karton?“
Der Karton stand vor ihm. „Was die Frau alles so gesammelt hat“, überlegte er, während er hineinschaute. Unzählige Marmeladendöschen und Zuckertütchen lagen zwischen farblosen Handtüchern und einem Feldessbesteck herum. Zwei große weiße Kaffeetassen waren mit herausgerissen Seiten einer Frauenzeitschrift eingewickelt. Etwas blöde grinsten ihn von einer der Seiten Heino und Hannelore an.
Schnell zwei drei Schlucke aus der Flasche.
Kamm, Bürste und Nagelscherenetui - Rudolf kramte den Plunder etwas auf Seite. Ein vergilbter Blutspendeausweis mit kaum noch sichtbarem roten Kreuz oder ein kleines Fotoalbum, uninteressiert wühlten sich seine Hände tiefer in das vergangene Leben seiner verstorbenen Mutter.
Schon bei seiner Erstdurchsicht im Altenheim fiel ihm ein verschlissenes Sparbuch auf, aber das war schon lange nichts mehr wert und in seiner Hosentasche fühlte er vier alte Fünfmarkstücke, die er in einem alten Kuvert gesteckt, ganz unten im Karton gefunden hatte. Musste seine Frau ja nicht sehen, erst mal sehen, ob die was bringen.
AGNUMAMAD
Ein letzter uninteressierter Blick und Rudolf schloss die Tür zur Rumpelkammer, nicht ohne eine neue Flasche aus der Kiste zu angeln. Als er sich auf die durchgesessene Couch setzte, hatte er das Wort schon wieder vergessen.
Stumpfsinnig brütete er vor sich hin. Während er in sich selbst versank, kamen die Kinder nach Hause.
„Essen!“
Rudolf hatte keinen Hunger.
Karin stöckelte etwas hektisch auf ihren abgelaufenen Pumps hin und her. Während sie sich einen leicht aus der Mode gekommenen Mantel überwarf, rief sie ihrer Tochter zu: „ Packst du alles zusammen und kommst dann?“
„Wie soll ich das denn alles tragen? Ich bin doch kein Muli.“ Tochter Melanie verdrehte die Augen. Sie stand vor dem Ehebett ihrer Eltern, wo Karin all die ganzen Dinge achtlos hingeworfen hatte, die sie mitnehmen wollte. Die Schwester hatte Karin um einige Dinge gebeten, Schlafanzüge, Socken, Unterwäsche und Rasierzeug nicht vergessen
„Schau im Zimmer nach!“ Immer wenn Karin „Zimmer“ sagte, war die Rumpelkammer gemeint.
Der Schlaganfall hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Die Ärzte machten wenig Hoffnung und schließlich landete er in einem spartanisch eingerichteten Raum im Pflegeheim „St. Josef“.
Rudolf dämmerte meist nur noch vor sich hin. Er bekam wenig davon mit, was ihn umgab.
Als Karin gegangen war, spürte er die Schwester um sich herum, die mit ihrer Körperfülle immer einen kleinen Luftzug erzeugte, wenn sie um sein Bett wieselte.
„Ihre Frau hat Ihnen ein paar Sachen vorbei gebracht. Wir räumen die gleich in Ihren Schrank ein.“
Rudolf öffnete die Augen, und auf dem Tisch am Ende seines Bettes stand ein Karton.
AGNUMAMAD
„Blödes Wort, wer schreibt so einen Quatsch auf nen Karton“, dachte er noch, bevor er wieder wegdämmerte.
Letzte Aktualisierung: 22.03.2010 - 13.12 Uhr Dieser Text enthält 6006 Zeichen.