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Ein Held | April 2010
Femina Fortissima
von Bernd Kleber

Kommt, Dunois! Laßt uns der Heldin folgen,

Und ihr die tapfre Brust zum Schilde leihn!

Schiller: Die Jungfrau von Orleans.



Beide standen vor dem Spiegel. Sie fingerte an dem dünnen Stoff des Kleides. Er, hinter ihr, schob den Krawattenknoten höher.
„Zieh doch das Rote an, Liebes.“
Die Frau sah in sein gespiegeltes Antlitz.
„Ach lass nur, es ist doch ohnehin vorbei“, flüsterte sie.
Neele hörte aber verstand nicht, sah in unbekannte traurige Gesichter ihrer Eltern.
„Fahr allein, ich bleibe mit dem Kind hier. Ich muss mir nicht wieder von deiner Mutter Vorwürfe reinziehen und dein Grinsen dazu ansehen, Martin.“ Sie legte sich auf das Bett.
Neele war es Recht, dass sie nicht fuhren, und schlich sich aus dem Haus. Im Vorbeigehen ließ sie einen Kajalstift in ihrer Hosentasche verschwinden. Sie steckte gern Gegenstände ein, die sie wie Schätze behandelte.
Eine große Schwermut ergriff sie, dieses Gefühl war ihr unheimlich und neu. Sie lief zum Spielplatz. Wer würde dort sein?
Am Parkplatz vorbeischlendernd, sah sie über die leere Fläche. Kein Auto. Ehemals weiße Linien teilten das Areal geometrisch. Dort, wo sich die beiden dicksten Striche trafen, befand sich ein Gegenstand. Wie ein schwarzer Punkt in den grauen Linien.
Neele ging näher. Was war das kastenförmige Gebilde?
Neele kniete sich neben dem Quader nieder und schnupperte. Er roch brenzlig, nach Maschinen, auch nach ihrer Fahrradkette. Sie schrak zurück.
An der Längsseite des Kastens waren Buchstaben. Neele konnte immer noch nicht sehr gut lesen, obwohl sie schon in die zweite Klasse gekommen war.
Mühsam begann sie, die Buchstaben zusammenzuziehen: D ... y ... n ... a ... m ... i
Dynamit! Ja, so hieß dieses gefährliche Zeugs, mit dem man ganze Gebäude in die Luft sprengte. Neele sprang auf. Sie keuchte!
Sie überlegte kurz und rannte nach Hause.
Die Tür bekam sie nicht sofort auf. Das Band, an dem der Schlüssel hing, war zu kurz. In der Eile hatte sie ihn nicht vom Hals gezogen.
Im Haus suchte sie ihre Mutter, rannte durch alle Räume.
Mama lag auf dem Bett, wie Neele sie nach dem traurig klingenden Wortwechsel mit dem Vater verlassen hatte. Leise weinte sie in die Kissen. Das Kleid hing in weichen Falten über der Bettkante.
Neele sah etwas Glitzerndes auf dem Teppich liegen. In dem scheuen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch den halb zugezogenen Vorhang bahnte und mit flirrenden Staubkörnchen prahlte, blitzte das Plastikteil. Neele hob den leeren Blister auf und schob ihn schnell in die Hosentasche.
„Mutti?“
„Ach geh, Kleines, ich brauch mal Zeit für mich“, flüsterte sie. Neele stand unentschlossen in der Tür.
„Mutti, jemand will unser Dorf in die Luft sprengen“, versuchte sie Aufmerksamkeit der Mutter zu fischen. Der Köder hatte keinerlei Wirkung, im trüben Wasser der verschwommenen Gefühle in diesem Raum war weiterhin nur Schluchzen zu hören.
„Ach Liebes, gute Idee, hat ja alles keinen Sinn mehr. Geh spielen solange.“
Das Mädchen sah mit offenem Mund auf die Szene. Was redete ihre Mutter? Das konnte nicht ihr Ernst sein.
Neele drehte sich weg, verließ das Haus und lief die Dorfstraße hinunter zum Gasthaus. Dort würde sie sicher ihren Nachbarn, Herrn Fassler, treffen.
Als sie die schwere Tür zum Wirtshaus öffnete, sah sie am Stammtisch einige Dorfbewohner sitzen.
„... eine Maß Bier auf dem Oktoberfest acht Euro siebzig, also rund 17 Mark. Das wären in Ostmark 170 gewesen!“ Herr Fassler knallte das Bierglas auf den Tisch und alle lachten scheppernd.
„Hallo, wir müssen unser Dorf retten!“, rief Neele, so laut sie konnte, in den Raum.
Sie wagte sich nicht weiter, hielt noch die gusseiserne Klinke fest.
Die Köpfe der Männer drehten sich schlagartig zu dem Kind. Bei Herrn Jost tropfte Schaum vom Bart. Eine fremde Frau, deren Gesicht die Farbe einer Mohrrübe hatte, grinste. Neele überlegte, ob die Fremde dies nur tat, um ihre gelben Zähne zu zeigen.
„Komm mal her, Prinzesschen!“, donnerte Herr Fassler.
Neele ließ die Schmiedekunst los und tappte mit zitternden Knien Schritt für Schritt auf die Herren zu. Als sie den Tisch erreicht hatte, begann Herr Fassler ihren Kopf zu tätscheln.
„Neele, niemand will das Dorf in die Luft sprengen. Das kann ich dir versichern.“ Herr Fassler strich jetzt über ihre Wange. Seine Hand roch nach Bierflaschen und war klebrig. Sie machte einen Schritt zurück, die Pranke konnte sie nicht mehr erreichen.
„Doch. Auf dem Parkplatz neben dem Wohnblock liegt Dynamit!“, rief sie und wunderte sich über ihr kreischendes Krächzen.
„Was?“, polterte Herr Fassler, „na, das gucken wir uns mal an, du Heldin!“
Zu den Tischnachbarn mit einem Grinsen gewandt: „Los Männers, wir gehen an die Luft, Hasso muss auch wieder raus.“
Die Herren erhoben sich. Die Stühle schurrten im Chor auf den blanken Dielen.
Wie auf Kommando kam der Terrier hinter der Theke hervorgeschossen, wedelte mit seinem Stummelschwanz und sprang an seinem Herrn hoch.
Die Männer lachten und gingen mit Neele hinaus.
Auf dem Weg zum Parkplatz machten sie Witze, die Neele nicht verstand. Wenn der Hund länger schnupperte oder das Bein hob, folgten laute Sätze mit für Neele unbekannten Wörtern. Die Frau mit dem Möhrengesicht lachte am lautesten.
Endlich kamen sie am Parkplatz an.
Alle blieben wie auf ein geheimes Kommando hin stehen.
Neele sah genau in die Gesichter der Männer und wartete deren Reaktionen ab.
Diese starrten so lange auf den schwarzen Kasten, dass Neele fast erstickte vor Spannung.
Dann brach ein schallendes Gelächter aus. Die Männer beugten sich vor, hielten sich aneinander fest, schlugen aufeinander ein und wiesen abwechselnd auf die explosive Bedrohung oder auf Neele. Dabei gurgelten sie, stammelten Unverständliches.
Neele spürte sie ein rasendes Grummeln in sich aufsteigen, das nahm Besitz von ihr, wühlte sich von unten nach oben und zurück. Zwei Drachen kämpften in ihrem Bauch. Es entlud sich ein Schrei. „Was denn?“
„Dynamit ...“, lachten die Männer, bis Herr Fassler sich endlich zu ihr hockte, „Neele, da steht ´Dynamic-Power´. Das ist eine alte Autobatterie.“
Neele spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss.
Sie drehte sich mit gesenktem Haupt weg und rannte die Dorfstraße hinab.
Hinter sich hörte sie noch lange die Männer johlen und ihre Witze reißen.

***


Sie war schon ein ganzes Stück gelaufen, vorbei an den Rasensprengern, die wie Wasserspiele sprudelten, entlang an dem Haus mit der lauten Klassikmusik, als Neele den Zaun erreichte, hinter dem der Pitbull Elvis heiser kläffend auf und ab rannte. Der Hund hatte Hoffnung, eine Lücke in den Zaunfeldern würde sich auftun. Neele lief weiter, nahm nichts wahr.
Am Haus ihrer Schulfreundin angekommen, blieb sie stehen, es roch eigenartig.
Sie sah durch das Gatter der Meiers. Über dem Dach türmte sich eine breite graue Rauchsäule, die sich steil in den Himmel erhob. Es stank. Neele kaute auf ihrer Unterlippe, brannte es bei ihrer Freundin?
Sollte sie die Feuerwehr benachrichtigen, sich erneut dem Spott aussetzen? Aber sie musste! Wo sollten die Meiers leben, wenn nur noch ein Häuflein Asche von ihrem Heim übrig wäre?
„Neele!“ Ein Ruf, der das Mädchen veranlasste, sich umzusehen.
„Lia, du? Bei euch brennt es, komm schnell, wir müssen den Löschzug alarmieren.“
„Aber Neele, das ist doch nur mein Vater auf der Terrasse, der den Grill anfeuert. Komm mit, ich frage meine Mama, ob du mitessen darfst und danach können wir ´Hannah Montana` sehen.“
Die Mädchen fassten sich lachend an den Händen, als sie durch den Garten der Meiers hüpften.
Neele durfte zum Abendessen bleiben. Sie aß Würstchen und Salat. Sie beobachtete Lia und ihre Eltern und spürte ein Gefühl des Hungers trotz vollem Magen. Hier war es so schön, wie bei ihr seit langem nicht mehr.
Nun erzählte sie von ihrer Mutter und dem Blister, der auf dem Boden gelegen hatte. Ihr Vater sei verreist. Ihre Mutter weinte den ganzen Tag und läge im Bett, berichtete sie.
Lias Mutter ließ sich die leere Tablettenpackung zeigen. Nach dem Entziffern der durchdrückten Aufschrift sah sie Neele mit festem Blick an, holte tief Luft. Als der Notarzt benachrichtigt wurde, begann Neele zu weinen.

***


Neele weinte noch. Wie ein Schwall strömte schmerzhaft nach außen, was sich festgesetzt hatte. Eine verstopfte Rohrleitung war frei geworden. Lia strich ihr tröstend übers Haar, als das Blaulicht sich über die Dorfstraße entfernte.
„Neele, hättest du mir die leere Tablettenpackung nicht gezeigt, wäre es zu einem großen Unglück gekommen. Alles wird gut, du wirst sehen. Du bist unsere Heldin des Tages.“
Das Mädchen japste: „Was?“ und wischte sich die Tränen von den Wangen.

©Bernd Kleber

Letzte Aktualisierung: 17.04.2010 - 19.10 Uhr
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