Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Ob er sich zu mir setzen könne, fragte er nach einer Weile.
„Ja, sicher, gerne.“ Ich lächelte und wunderte mich.
Später habe ich begriffen, dass er einfach genau an diesem Tag und genau in diesem Moment reden musste. Und ich saß eben zufällig da.
Er rückte den Stuhl so, dass er den Pariser Platz überblicken konnte.
Dann lehnte er sich zurück und lächelte ebenfalls.
Der Kellner schien ihn zu kennen und fragte nur: „Wie immer?“
„Ja, wie immer.“ Er nickte freundlich. Ich fragte mich, was wohl ‚wie immer’ sein würde und bestellte mir Apfelkuchen und Kaffee.
„Sie sind also öfter hier“, sagte ich nach einer Weile.
„Ja“. Er nickte. „An jedem ersten Sonntag im Monat.“ Sein Blick wanderte versonnen über den Platz. „Seit sechzig Jahren.“
Sechzig Jahre. Das ist eine verdammt lange Zeit. Ich dachte sofort an Krieg und sah ihn prüfend an. Und er schien zu wissen, was ich dachte. Wir schwiegen, bis der Kellner mit unserer Bestellung kam. ‚Wie immer’ stellte sich als Käsekuchen und Kakao heraus.
Und dann begann er zu reden. Und ich vergaß darüber meinen Kuchen und meinen Kaffee.
„Wilhelm heißt er“, sagte er leise, „ich habe einen Zwillingsbruder.
Er deutete auf seinen Teller. „Wilhelm mag Käsekuchen am liebsten.“
Fast andächtig griff er nach der Kuchengabel. Er zögerte, bevor er zu Essen begann und sah mich an. „Wir waren in derselben Kompanie.“
Ich nickte kaum merklich. Ja, meine Generation weiß es aus Büchern, Zeitungsartikeln und Erzählungen. Aber seine Generation hat es erlebt und weiß, wie sich Krieg anfühlt.
„Wilhelm und ich“, fuhr er fort, „waren immer zusammen. Immer. Wir hatten keinen Streit. Außer einmal.“ Nun schmunzelte er ein wenig. „Als Wilhelm mein Spielzeugauto zertreten hatte. Ich war sehr wütend auf ihn. Aber nur für den Moment. Wir schliefen in einem Zimmer, weil wir zu Hause wenig Platz hatten. Mit siebzehn wurden wir einberufen.“ Seine Miene wurde wieder ernst.
„Wir haben gemeinsam die Parolen gebrüllt. Wir haben gemeinsam vor Heimweh geweint. Und wir haben gemeinsam gemordet.“
Er sprach klar und mit fester Stimme. Seine Augen wanderten immer wieder über den Platz und ich hörte ihm wortlos zu. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt sprach er schon gar nicht mehr zu mir, sondern mehr zu sich selber.
„Ich weiß nicht, wie viele wir erschossen haben. Waren es zehn? Zwanzig? Was sollten wir machen – entweder sie oder wir. Ich habe gebetet, Gott möge mir verzeihen.“
Um uns herum war es laut. Ich rückte etwas näher, um ihn besser verstehen zu können. Menschen lachten. Kinder schrieen. Eine Dame beschwerte sich lautstark, dass sie bereits vor einer halben Stunde ein Schokoladeneis mit Sahne bestellt habe.
Ich sah Soldaten. Soldaten, ohnmächtig vor Angst. Verzweifelt vor Wut über diese Sinnlosigkeit. Ich sah Brüder, die nicht wussten, ob sie die nächste Stunde noch gemeinsam erleben würden.
Er erzählte von der letzten gemeinsamen Stunde. Von dem überraschenden Angriff. Von Sanitätern, die Wilhelm abgeholt haben. Von dem verzweifelten Versuch, Wilhelm ins Lazarett zu folgen. Von einer Spur, die sich verlor und von der Hoffnung, dem einzigen Lebensziel, den Bruder wieder zu finden. Und von der neuen Chance, nachdem die Mauer gefallen war.