Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Ein Held | April 2010
Café LebensArt, Pariser Platz, Berlin
von Gisela Reuter

Er sah sich um, als würde er auf jemanden warten. Er entfernte sich ein wenig von dem Café, kehrte jedoch gleich darauf zurück und hielt abermals Ausschau. Mich faszinierten seine Augen und sein Blick, in dem etwas lag, das ich nicht genau benennen konnte.
Er erinnerte mich an meinen Großvater. Das weiße Haar akkurat nach hinten gekämmt. Der Gang leicht gebeugt. Das Gesicht von Alter und Erlebtem gezeichnet.

Ob er sich zu mir setzen könne, fragte er nach einer Weile.
„Ja, sicher, gerne.“ Ich lächelte und wunderte mich.
Später habe ich begriffen, dass er einfach genau an diesem Tag und genau in diesem Moment reden musste. Und ich saß eben zufällig da.

Er rückte den Stuhl so, dass er den Pariser Platz überblicken konnte.
Dann lehnte er sich zurück und lächelte ebenfalls.
Der Kellner schien ihn zu kennen und fragte nur: „Wie immer?“
„Ja, wie immer.“ Er nickte freundlich. Ich fragte mich, was wohl ‚wie immer’ sein würde und bestellte mir Apfelkuchen und Kaffee.
„Sie sind also öfter hier“, sagte ich nach einer Weile.
„Ja“. Er nickte. „An jedem ersten Sonntag im Monat.“ Sein Blick wanderte versonnen über den Platz. „Seit sechzig Jahren.“
Sechzig Jahre. Das ist eine verdammt lange Zeit. Ich dachte sofort an Krieg und sah ihn prüfend an. Und er schien zu wissen, was ich dachte. Wir schwiegen, bis der Kellner mit unserer Bestellung kam. ‚Wie immer’ stellte sich als Käsekuchen und Kakao heraus.
Und dann begann er zu reden. Und ich vergaß darüber meinen Kuchen und meinen Kaffee.
„Wilhelm heißt er“, sagte er leise, „ich habe einen Zwillingsbruder.
Er deutete auf seinen Teller. „Wilhelm mag Käsekuchen am liebsten.“
Fast andächtig griff er nach der Kuchengabel. Er zögerte, bevor er zu Essen begann und sah mich an. „Wir waren in derselben Kompanie.“
Ich nickte kaum merklich. Ja, meine Generation weiß es aus Büchern, Zeitungsartikeln und Erzählungen. Aber seine Generation hat es erlebt und weiß, wie sich Krieg anfühlt.

„Wilhelm und ich“, fuhr er fort, „waren immer zusammen. Immer. Wir hatten keinen Streit. Außer einmal.“ Nun schmunzelte er ein wenig. „Als Wilhelm mein Spielzeugauto zertreten hatte. Ich war sehr wütend auf ihn. Aber nur für den Moment. Wir schliefen in einem Zimmer, weil wir zu Hause wenig Platz hatten. Mit siebzehn wurden wir einberufen.“ Seine Miene wurde wieder ernst.
„Wir haben gemeinsam die Parolen gebrüllt. Wir haben gemeinsam vor Heimweh geweint. Und wir haben gemeinsam gemordet.“
Er sprach klar und mit fester Stimme. Seine Augen wanderten immer wieder über den Platz und ich hörte ihm wortlos zu. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt sprach er schon gar nicht mehr zu mir, sondern mehr zu sich selber.
„Ich weiß nicht, wie viele wir erschossen haben. Waren es zehn? Zwanzig? Was sollten wir machen – entweder sie oder wir. Ich habe gebetet, Gott möge mir verzeihen.“

Um uns herum war es laut. Ich rückte etwas näher, um ihn besser verstehen zu können. Menschen lachten. Kinder schrieen. Eine Dame beschwerte sich lautstark, dass sie bereits vor einer halben Stunde ein Schokoladeneis mit Sahne bestellt habe.
Ich sah Soldaten. Soldaten, ohnmächtig vor Angst. Verzweifelt vor Wut über diese Sinnlosigkeit. Ich sah Brüder, die nicht wussten, ob sie die nächste Stunde noch gemeinsam erleben würden.

„Es war der erste Sonntag im August“, sprach er nach einer kleinen Pause weiter.
„Am nächsten Morgen sollten wir uns bei der Kompanie melden. Wir standen ungefähr hier, wo heute das Café ist und haben uns geschworen, falls wir durch irgendein Ereignis getrennt würden, uns genau hier, an einem ersten Sonntag im Monat wieder zu sehen. Es gab keine andere Möglichkeit. Berlin brannte. Unser Elternhaus war zerstört. Irgendeinen Treffpunkt mussten wir ausmachen. Wilhelm hatte die Idee.“
Eine Idee aus der Verzweiflung heraus. Ein Versprechen, ein Händedruck.
Ich fragte ihn nicht, ob Wilhelm jemals hierher gekommen war.

Er erzählte von der letzten gemeinsamen Stunde. Von dem überraschenden Angriff. Von Sanitätern, die Wilhelm abgeholt haben. Von dem verzweifelten Versuch, Wilhelm ins Lazarett zu folgen. Von einer Spur, die sich verlor und von der Hoffnung, dem einzigen Lebensziel, den Bruder wieder zu finden. Und von der neuen Chance, nachdem die Mauer gefallen war.

Ich weiß nicht, weshalb er sich ausgerechnet zu mir gesetzt hat, und eigentlich ist es auch egal. Ich weiß auch nicht, ob es im Leben Zufälle gibt. Aber ich bin froh, dass ich gerade an diesem ersten Sonntag im Monat draußen vor dem Café saß und Zeit hatte. Zeit zum Zuhören. Und wer weiß, vielleicht werde ich öfter an einem ersten Sonntag im Monat auf dem Pariser Platz vor diesem Café sitzen.

©2010, Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 26.04.2010 - 23.19 Uhr
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