Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
In unserer Siedlung war ein neuer Nachbar eingezogen.
Ein alleinstehender Mann, hieß es.
Der immer braven Silvia war er irgendwie unheimlich. „Er hat so etwas Animalisches“, sagte sie mit skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen. Aber was hieß das schon - die einzige animalische Anziehungskraft, die auf Silvia positiv wirkte, war die eines Teddybären.
Ich dagegen war nach Silvias Beschreibung erst recht gespannt darauf, den Mann endlich kennen zu lernen. „Animalisch, sagst du? Hm, klingt interessant.“
Silvia seufzte. „Sei bloß vorsichtig, irgendwann gerätst du noch an den Falschen!“
„Ach Silvia – mit den Falschen kann man auch richtig Spaß haben, glaub mir! Du solltest es auch mal ausprobieren.“
„Oh nein, ganz sicher nicht! Lass uns über etwas Anderes reden, du bist sowieso unbelehrbar.“
Also redeten wir noch ein wenig über Gartengestaltung und die unvermeidliche Ungezieferplage, die nach dem feuchten Winter zu erwarten war.
Nach unserem Sonntagsfrühstück ging Silvia wieder ´rüber in ihren Garten, um sich dem Frühjahrsputz zu widmen. Ich fand ja immer schon, dass man die Sonntagsruhe einhalten und an diesem Tag keinesfalls arbeiten sollte. Na, immerhin schwiegen die Rasenmäher.
Allmählich wurde es richtig schön warm. Ringsum öffneten sich Terrassentüren, wurden Möbel ins Freie gerückt. Vielleicht würde sich heute auch der neue Nachbar blicken lassen?
Gut gelaunt schlüpfte ich in ein leichtes Sommerkleid. Jetzt musste ich nur noch meine Sonnenliege aus dem Keller holen.
Ich kam nur bis zum Flur.
Gerade als ich die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, sah ich sie:
Eine riesige Spinne; schwarz, pelzig und mindestens so groß wie ein altes Fünfmarkstück. Mir stellten sich sämtliche Haare auf und mein Puls pochte heftig. Silvia konnte mir noch so oft erzählen, wie toll und hilfreich Spinnen als Ungeziefer-Vernichter sind, es half nichts – ich gruselte mich von klein an zutiefst vor diesen Biestern mit ihren vielen Beinen. Keinesfalls konnte ich durch diese Tür gehen, so lange die Spinne dort saß. Es kam mir vor, als beobachtete sie mich mit ihren kalten schwarzen Knopfaugen; richtig unheimlich war das.
Hektisch ging ich im Kopf meine Möglichkeiten durch.
Erschlagen? Uäh, nein – schon bei der Vorstellung des zerplatzenden Körpers drehte sich mir der Magen um. Ein Glas darüber stülpen und die Spinne in den Garten tragen, wie Silvia es getan hätte? Um Himmels Willen. So dick konnte ein Glas gar nicht sein, dass ich nicht das Gefühl hätte, die Spinne würde in meiner Handfläche herumkrabbeln; und wer weiß, wohin sie lief, wenn ich das Glas anhob. Nein, das war keine Option. Staubsauger? Irgendwie eklig, aber zumindest wäre die Distanz zwischen mir und dem Viech bei dieser Prozedur groß genug.
Aber was, wenn die Spinne nun weglief, während ich den Sauger holte? Ich würde wissen, dass sie in meinem Haus ist, aber ich würde nicht wissen, wo sie mir auflauert – oh Gott.
Versteinert und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, spürte ich allmählich einen Kloß im Hals. Hilfe … konnte mir denn niemand helfen?
Die Spinne fixierte mich immer noch. Jetzt hob sie die vorderen Beine und rieb sie aneinander, wie jemand, der sich in Vorfreude die Hände reibt.
Aaaaaaaahh!!! Das war zu viel. Laut um Hilfe rufend rannte ich zur offenen Terrassentür und hoffte inständig, dass irgendjemand mich retten würde.
Halb blind vor Angst und Tränen sah ich einen Schatten durch die Tür kommen und noch ehe ich bremsen konnte, prallte ich gegen eine kräftige Schulter. Hände hielten mich an den Oberarmen fest. Verwirrt nahm ich zur Kenntnis, dass die Hände zu einem großen, gutaussehenden Mann gehörten. „Was ist passiert?“ fragte eine tiefe Stimme. Ich blinzelte zu ihm hinauf in seine dunklen Augen. Das musste der neue Nachbar sein. Mein Herz schlug heftig, während ich nach hinten in den Flur wies und stammelte: „Da … da sitzt ein Ungeheuer …“
Er schaute mich fragend und ein bisschen besorgt an, bevor er mich los ließ und in den Flur trat. Ich konnte nicht hinsehen, wollte gar nicht wissen, was er dort tat. Stattdessen drehte ich mich zur Seite und hielt die Hände vor die Augen. Ich hörte seine Schritte hinter mir, er ging auf die Terrasse hinaus und kam einen kurzen Moment später zurück. Vorsichtig ließ ich die Hände sinken und drehte mich zu ihm um. Er sah wirklich gut aus, südländisch irgendwie. Seine Augen funkelten jetzt leicht amüsiert: „Sie ist weg. Beruhigen Sie sich, sie wird Sie nicht mehr erschrecken.“
Mein Held! Er hatte das Untier beseitigt, mich gerettet – und jetzt stand er vor mir.
Hingerissen und unendlich dankbar strahlte ich meinen Retter an. Seine dunklen, fast schwarzen Augen fixierten mich, als er ganz nah an mich heran trat. Ich sank bereitwillig an seine Brust. Er sagte nichts mehr, nahm mich nur auf seine starken Arme und trug mich wie selbstverständlich in Richtung Schlafzimmer. Mir war es recht. Ich war bereit, gleich wieder schwach zu werden und mich ganz in seine Hände zu geben.
Bis er die Tür zum Schlafzimmer öffnete.
Mir wurde eiskalt.
Zwei Beine gingen voran, zwei Arme trugen mich – welcher Arm hatte sich gerade ausgestreckt, woher kam die Hand, die die Tür geöffnet hatte und sie nun hinter mir schloss? Welche Hand zog jetzt die Vorhänge vor dem Fenster zu?
Wie hypnotisiert starrte ich auf einen Unterarm, an dem lange dunkle Haare aus dem Hemdsärmel hervorschauten.
Als er mich auf mein Bett legte, wurde mir schwarz vor Augen.
„Hätte ich doch nur dieses eine Mal auf Silvia gehört“, war das Letzte was ich dachte, bevor er über mich kam.
Letzte Aktualisierung: 26.04.2010 - 23.21 Uhr Dieser Text enthält 5662 Zeichen.