'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Ein Held | April 2010
Primzahlenketten
von Elke Sophia Mazur

„Und? Marvin. Wie lautet die Antwort?“
In der Klasse war es so still, dass man den Regen draußen in die Gullis rauschen hörte.
Herr Wegner fixierte ihn mit dem kalten Blick einer Giftnatter und schien alle Zeit der Welt zu haben. Marvin hing provokant lässig auf seinem Stuhl, die langen Beine gespreizt und seine Strickmütze tief ins Gesicht gezogen. Er dachte nicht daran, eine Antwort zu geben, wich aber dem stechenden Blick seines Mathelehrers nicht aus.
„Marvin“, Wegner legte den Kopf schräg und ein süffisantes Lächeln zuckte kurz über seine Lippen. „Deine intellektuelle Durchdringungstiefe liegt im Nanobereich“, konstatierte er kühl und wandte sich ab.
„Leck mich“, zischte Marvin und senkte den Blick, als die Schulglocke schrill die gespannte Atmosphäre durchbrach.

„Coole Sau!“ Ben schlug ihm von hinten mit der flachen Hand auf den Rücken. „Das war krass, der Penner hat ja geschäumt vor Wut!“
Marvin eilte durch das Treppenhaus, schob sich an seinen Mitschülern vorbei und hatte bereits ganz andere Dinge im Kopf. Die wirklich wichtigen Sachen, die brachte einem hier nämlich keiner bei. Stattdessen Primzahlenketten. Er spuckte auf den Boden, drehte den Kopf zur Seite und sah Ben, der hektisch hinter ihm herhüpfte, um Schritt zu halten.
„Ey, was geht, Alter? Abhängen oder was?“
„Keine Zeit.“
„Was´n? Bleib mal schön cremig, Babysitten kannste später!“
„Geht nicht“, Marvin drückte sich nach draußen, ließ den verblüfften Ben stehen und drehte sich um. „Mann, ich muss nach hause. Kappierste das nicht?“ Er stand im strömenden Regen und sah seinen Freund an, dann machte er kehrt und zog sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf.

Zuhause schob er den Schlüssel ins Schloss und öffnete leise die Tür. Für ein paar Sekunden verharrte er mit klopfendem Herzen im Flur und sah zu, wie sich um seine Chucks herum kleine Pfützen bildeten. Es roch nach kaltem Rauch, wie immer. Die Luft war schwer gesättigt von Alkohol, auch wie immer. Aber da war noch etwas. Säuerlich, bitter und er spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Irgendjemand hatte gekotzt. Scheiße, dachte er, straffte die Schultern und spähte ins Wohnzimmer. Seine Mutter lag auf der Couch und schnarchte. Das schmuddelige T-Shirt war hoch gerutscht, entblößte ihren Bauch und die fettigen Haare verklebten das Gesicht. Auf dem Tisch standen leere Bierflaschen, Aschenbecher mit alten Kippen, Pennerfusel und eine angebrochene Flasche Smirnoff. Der Fernseher lief lautstark und unbeachtet. Alles wie immer. Mit einer Mischung aus Furcht und Erwartung musterte der Junge seine Mutter, als sich ihre rotgeränderten Augen träge öffneten. „Glotz nicht so dämlich“, lallte sie rau. „Hast du Bier mitgebracht?“
„Ja.“
„Zigaretten?“
„Vergessen.“
„Warum stehst du Idiot dann noch hier?“ fauchte sie. „Du bist genauso ein wertloses Stück Dreck wie das Schwein, das dich gezeugt hat! Los, mach hin und kümmere dich gefälligst erst um deine Schwester!“
Damit wälzte sie sich schwerfällig auf dem Sofa herum und begann augenblicklich wieder zu schnarchen. Marvin verharrte noch für eine Sekunde, bis er sicher war, dass sie weiter ihren Rausch ausschlief und grinste dann. Alles lief perfekt.
Er schlich hinaus und betrat einen mit Müll, Unrat und schmutziger Wäsche voll gestopften Raum, der mal ein Schlafzimmer gewesen war. In der Mitte stand, wie eine kleine einsame Insel, die Wiege.
Marvin beugte sich hinüber und sein Blick wurde weich. Da lag Samantha. Seine kleine Schwester. Gerade mal fünf Monate alt und für seine Begriffe zu dünn, zu klein und zu blass – und so allein. „Hej little sister“, hauchte er und strich ihr ganz sanft über das winzige Gesicht. „Na, schon viel Spaß gehabt heute?“ Sam sah ihn mit riesigen Augen forschend an. „Ich habe eine Idee!“ Das Baby gluckste und Marvin zog sich lautlos und rasch sein Sweatshirt über den Kopf. Er hatte alles in den letzten Tagen vorbereitet und wusste genau, wie er vorzugehen hatte. Schnell kramte er seine Sporttasche hervor. Darin lagen gefaltete Frauenkleider, in die er jetzt schlüpfte. Ein Rock, Strümpfe und ein Jackett. Mit Jennys Paris-Hilton-Brille, die er sich geliehen hatte, würde ihn keiner erkennen. Vorsichtig hob er nun Sam aus der Wiege, wickelte eine Decke um ihren Körper und legte beschwörend einen Finger auf seinen Mund. „Bitte sei still!“ flehte er und schob das Bündel in die Sporttasche. Mit zusammen gebissenen Zähnen zog er den Reißverschluss zu, packte sich die Tasche unter den Arm und richtete sich entschlossen auf.

„Ojojoj!“
Sybilla Henkel hastete mit wehendem Kittel den Gang hinunter. Die junge Stationsärztin verfluchte die Kanne Hagebuttentee, die sie zum Frühstück getrunken hatte. Es gab so viel zu tun, dass selbst ein Gang zum Klo reinste Verschwendung war und wertvolle Zeit kostete, in der sie sich um ihre Patienten kümmern wollte.
Sie riss die Tür auf, nestelte schon an ihrem Hosenknopf herum, als sie ein leises Wimmern erstarren und aufhorchen ließ.
Da war es wieder.
Ein Brabbeln.
Vorsichtig ging sie in die Knie, spähte unter den Kabinen hindurch und erblickte eine Tasche, die in einer Nebentoilette abgestellt war.
Eine kleine Faust griff hinaus, öffnete sich und verschwand wieder.
„Oh – mein –Gott!“
Völlig vergessend, warum sie hier war, öffnete sie behutsam die Tür und sank fassungslos auf die Fliesen.
Da lag ein kleiner Mensch in der Tasche und warf ihr ein zartes, zahnloses Lächeln zu.
Sybillas Herz zog sich zusammen. „Hallo du kleine Maus, “ flüsterte sie sanft und schob vorsichtig mit einer Hand die Tasche auseinander. „Ich glaube, du brauchst dringend eine neue Pampers, “ sie schnupperte lächelnd. Auf der Decke, in der das Baby zappelte, lag ein kleines Blatt Papier. Sie erstarrte und spürte, wie sie völlig ungeschützt von einem Tsunami widerstreitender Gefühle überwältigt wurde. Mitleid, Zorn und Sorge ließen eine heiße Welle ihre Augen fluten. Ein einziger Satz war auf das Blatt Papier geschrieben.

Bitte helft meiner Schwester

Letzte Aktualisierung: 10.04.2010 - 20.58 Uhr
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