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Ein Held | April 2010

Orok der Drachenjäger
von Susanne Ruitenberg

Orok bog um die Ecke und sah die Rauchsäule aufsteigen. „Nein“, schrie er. Sie waren schon wieder zu spät! Er gab seinem Pferd die Sporen und hielt auf das Dorf zu. Vielleicht war nicht alles verloren. Manchmal zündeten sie nur einzelne Hütten an und kamen wieder, wenn die Bewohner sich in Sicherheit wähnten. Er zügelte sein Reittier und näherte sich langsam dem Dorfeingang. Vom Palisadenzaun waren nur angesengte Bruchstücke übrig, als hätte ein Riese ihn erst niedergetrampelt und dann angezündet. Keine Frage, sie waren hier gewesen.
Die Feuervögel.
Riesige schwarze Kreaturen, mit schuppiger Haut, endlosen Flügeln, rotglühenden Augen und einem Feueratem, der binnen Augenblicken alles vernichten konnte. Niemand wusste, aus welchen Untiefen der Hölle sie kamen, oder ob sie Kreaturen des mächtigen Zauberers Denogast waren, der seit geraumer Zeit versuchte, das ganze Land seinem Willen zu unterwerfen. Anfangs hatten Lualas Einwohner noch versucht, sich zu wehren. Doch nun wagte kaum noch jemand, den Feuervögeln und Denogasts Schergen Widerstand entgegen zu setzen, die im Gefolge der Gefiederten mordeten und plünderten. Einzig ein paar versprengte Ritter des Lichtordens kämpften noch, doch was konnten sie mit ihren Pferden und Schwertern gegen eine solche Übermacht ausrichten?

Jetzt hatte er den Eingang erreicht und sah, dass ein Großteil der Hütten noch stand, einzelne Bewohner liefen umher und versorgten Verwundete. Er nahm sein Horn und blies das vereinbarte Signal. Seine drei Gefährten, die einzigen, die von seinem Abzeichen übrig waren, das einmal an die vierzig gezählt hatte, schlossen im Galopp zu ihnen auf.
„Brüder, lasst uns sehen, was wir hier tun können“, sagte er und lenkte sein Pferd durch das Tor.
„Ich ertrage diese Zerstörung nicht mehr“, murmelte Teno hinter ihm. „Es war ein Fehler, dass der Orden nicht gleich massiv zum Angriff geführt wurde, damals, als die dunklen Zeiten über uns hereinbrachen.“
Orok drehte sich zu seinem Gefährten um. „Die Entscheidung unserer Väter war falsch. Doch hilft es uns heute nicht, ständig darüber zu lamentieren.“

Ein bärtiger Mann stand mitten auf dem Weg. „Jetzt kommt Ihr? Ist es Absicht, dass Ihr immer erst erscheint, wenn ein Dorf angegriffen wurde und die Toten sich stapeln?“
Orok schwang sich vom Pferd und baute sich vor dem Bärtigen auf, den er um eine Haupteslänge überragte. „Prien, Ihr wisst, dass wir nicht überall gleichzeitig sein können. Und dass der Orden so dezimiert ist – nun, ich erinnere daran, dass auch Ihr Euch geweigert habt, uns Eure zehn stärksten Jünglinge als Anwärter zu geben. Jetzt müsst Ihr mit den Folgen leben.“

Er gab seinen Gefährten ein Zeichen und sie verteilten sich im Dorf. Die nächsten Stunden befreiten sie Verletzte aus halb eingestürzten Hütten, trugen sie in der Halle der Gebete zusammen und flickten die Gehege des Viehs, das durch die Straßen irrte, um es anschließend einzutreiben. Es dämmerte bereits, als in der Ferne ein höllisch anmutender Schrei erklang; ein zweiter antwortete.
„Oh nein, sie kommen zurück“, rief eine Frau.
„Schnell, in den Dorfweiher“, befahl Orok. Die Bauern rannten; wer konnte, trug Kinder im Arm und stützte Verletzte.
Zwei Feuervögel verdunkelten den Himmel. Sie tauschten schrille Laute aus, in Oroks Ohren klag es, als spotteten sie über das vergebliche Mühen der winzigen Menschen, die wie aufgeschreckte Ameisen am Boden umherstiebten. Das größere der Ungeheuer kam im Sinkflug herab gestürzt, flog über die Dorfstraße und setzten, den Kopf nach links und rechts bewegend, die Hütten in Brand, die die Straße säumten. Orok ballte die Fäuste. Diese Zerstörung machtlos mit ansehen zu müssen! Während seine Gefährten nach neuen Verletzten suchten, zog er am Gewand seines Bruders Nilo und rief ihm zu: „Wir müssen die Halle räumen, komm mit.“ Sie kämpften sich an brennenden Häusern und durcheinander rennenden Bewohnern vorbei, bis sie das große Gebäude erreichten. Beide Feuervögel kreisten darüber, es war, als tanzten sie in Vorfreude auf die Zerstörung, die sie gleich anrichten würden. Orok fragte sich nicht zum ersten Mal, ob diese Wesen nur Ausführende der Verwüstung waren, ausgesandt von Denogast. Oder ob sie nicht selbst dachten und planten, mit bösartiger Schlauheit.

Vor der Halle hatten sich Dörflinge eingefunden, die in Windeseile Verletzte heraus trugen. Der kleinere der Feuervögel flog einen Bogen und hauchte seinen Tod bringenden Atem mitten hinein. Menschen wurden zu lebenden Fackeln; sie schrien gottserbärmlich und verstummten nach und nach. Nilo hielt sich die Ohren zu. Orok musste husten, als beißender Rauch seine Lunge fühlte. Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter und zog ihn mit sich zur Rückseite der Halle der Gebete. Von einem früheren Besuch wusste er, dass dort die ganze Mauer mit Efeu bewachsen war. Er zog sich daran hoch und kletterte die Wand hinauf. „Du bist verrückt“, rief Nilo, tat es ihm jedoch gleich. Auf dem Dach angelangt, huschte Orok in gebückter Haltung bis zu dem großen Schornstein und duckte sich dahinter, sein Bruder dicht hinter ihm. „Was hast du vor?“, flüsterte Nilo ihm ins Ohr.
„Meist landen sie auf der Halle der Gebete, wenn sie ein Dorf vernichten. Sie stolzieren darauf herum und lassen ihre stinkenden ... na ja, du kannst dir den Rest denken.“
Nilo nickte.
Orok fuhr fort. „Es ist fraglich, ob wir diesen Tag überleben. Aber ich will eines von diesen widerlichen Dingern mitnehmen, wenn ich abgehen muss. Wir warten, bis sie landen, dann stürmen wir los.“
„Und wenn sie uns vorher entdecken?“, fragte Nilo.
„Sie sehen schlecht, glaube ich, oder nur Dinge, die sich bewegen. Vertrau mir.“ Er schluckte. Hoffentlich hatte er Recht. Noch nie hatte jemand Ähnliches versucht. Er wusste nicht einmal, ob ihre kümmerlichen Schwerter gegen den Schuppenpanzer etwas ausrichten würden. Aber er war des Kampfes müde, und das Land war, so schien es, ohnehin dem Untergang geweiht.
Da erzitterte das Dach. Sie waren gelandet. Vorsichtig lugte er um den Schornstein herum. Der größere, das Männchen offenbar, falls diese Ausgeburten der Hölle Geschlechter besaßen, baute sich mit schlagenden Flügeln vor dem kleineren auf und stieß einen Schrei aus. Dann ließ er einen übel riechenden Strahl auf das Dach niederprasseln. Grüne Dämpfe stiegen auf, wo die Flüssigkeit die Schindeln getroffen hatten. Da stieß das Weibchen einen ebensolchen Schrei aus und senkte den Kopf, als nicke es dem Gefährten zu. Sie starrten einander an.
„Jetzt“, rief Orok und stürmte los, das Schwert in der ausgestreckten Hand. Obwohl er am liebsten gebrüllt hätte, um sich Mut zu machen, hielt er sich zurück, um nicht die Aufmerksamkeit der Bestien zu erwecken. Sie merkten nichts. Er zielte mit seinem Schwert mitten in den Leib des Männchens und warf sich mit ganzer Kraft in den Hieb. Als die Spitze den Panzer berührte, gab es einen Ton, wie wenn ein Hammer einen Knochen zerschlägt, sein Arm spürte den Widerstand der harten Schicht, dann drang die Schwertspitze ein und das ganze Schwert verschwand im Körper des Ungeheuers.
Es blickte ungläubig an sich herab und brüllte los. Schnell zog Orok das Schwert heraus, als er eine Hitzewelle hinter sich spürte. Nilo ging unter dem Atem des Weibchens in Flammen auf. Jetzt schrie Orok und hieb wie ein Berserker auf den schwarzen Körper vor ihm ein. Wenn er schon sterben musste, wollte er dem Biest so viel Schaden wie möglich zufügen. Sein Arm schmerzte von den Schlägen, als unvermittelt Hitze auf ihn hinab fiel und er hatte noch Zeit zu schreien: „Mama, es brennt so!“ als er ...

* * *

Die beiden Weißgekleideten blickten auf die zuckende Gestalt, die gefesselt im Bett lag. „Dieser ist ein besonders schräger Fall, Frau Kollegin“, sagte Dr. Mehler.
Die junge Ärztin beugte sich zu dem Patienten hinab. „Er windet sich und zuckt, was hat er?“
Mehler legte eine Hand auf die Brust des Patienten, das beruhigte ihn manchmal. „Er ist seit über einem Jahr hier. Spielsüchtig war er, hatte monatelang ohne Unterbrechung am Bildschirm gesessen und so ein absurdes Drachenjäger-Machwerk gespielt. Soweit wir das rekonstruieren können, ist er im allerletzten Level gescheitert. Daraufhin sprang er aus dem Fenster. Seitdem liegt er im Wachkoma. Alle paar Tage wird er unruhig und zuckt herum, als hinge sein Leben davon ab. Es nimmt immer den gleichen Verlauf. Gleich werden Sie sehen, wie es endet.“
Die rechte Hand des Patienten ballte sich, als hielte er etwas, er vollführte stoßartige Bewegungen, so weit die Fesseln das zuließen.
„Als führte er ein Schwert“, murmelte Dr. Bein.
Schlagartig riss der Junge die Augen weit auf, sein Gesicht verfärbte sich krebsrot. „Mama, es brennt so!“, schrie er, und sein Kopf fiel zur Seite.
Dr. Mehler nahm ein feuchtes Tuch aus einer bereit stehenden Wasserschüssel und tupfte vorsichtig das Gesicht des Jungen ab. „An dieser Stelle bricht es immer ab.“
„Und wie häufig geschieht das?“
„Alle drei Tage, immer um die gleiche Zeit. Wer weiß, welchen Tod er hier wieder und wieder stirbt, ohne Hoffnung, je daraus zu erwachen.“
„Tragisch“, pflichtete Dr. Bein ihm bei.
Dr. Mehler nickte, dann zog er die neue Kollegin am Arm. „Aber ich habe noch einen besseren. Kommen sie mit.“
Sie verließen das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Letzte Aktualisierung: 27.04.2010 - 11.55 Uhr
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