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Ein Held | April 2010

Der Fingerzeig
von Robert Pfeffer

Ich kann dich nur sehen, wenn dein Gesicht genau über meinem ist. Wie in einer engen Schlucht, in der das Licht den Boden erreicht, wenn die Sonne im Zenit steht. Deine Stimme bewegt mich tief, deine Berührung lässt mich ahnen, dass ich noch existiere. Du hörst mich leider nicht. Ich rede mit dir. Anders. Aber ich tue es. Eigentlich das Einzige, was mich am Leben hält. Meine Gedanken kann ich spüren, mich selbst fühle ich so gut wie nicht mehr. Die innere Uhr ist stehen geblieben. Stunden sind dasselbe wie Minuten. Eine Sekunde, ein Monat ... wie fühlt sich der Unterschied an? Ich habe es vergessen. Ist gerade Sommer oder Winter?

Das Piepsen. Ich hasse das Piepsen. Wie jemand, der den ganzen Tag einen halben Meter hinter mir geht und sich ständig räuspert, um zu zeigen, dass er immer da ist. Ich bin ... nie allein.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, welche Jahreszeit. In meinem Sommer sehe ich deine Haare, wie sie im beständigen Wind der Puszta wehen und ihre Pracht mit den Mähnen der Pferde konkurriert. Ein Stück den Hügel hinauf saß ich, bewunderte dich, als du auf unserer Hochzeitsreise am Steg in den Velencei-tó im Spiel der Zehen im Wasser deine Kindheit heraufzuholen vermochtest. Gänsedreck und Kuhmist hätten dich überhaupt erst so groß werden lassen, sagst du. Deine Eltern haben immer befürchtet, dass ein Mädchen von mehr als einem Meter siebzig auf dem Land niemals einen Mann finden könnte. Seit du vierzehn warst stand für dich fest, dass du nur einsneunundsechzig wirst. Egal wie. Unfassbar, dass es tatsächlich heute in deinem Pass steht. Oh, mein Sommer endet. Die Schale naht.

Ich hasse die Schale. Elendig kaltes Teil. Wenn sie den Beutel wechseln, stellen sie mir das Ding immer auf den Bauch. Mit der Schale kommt mein Winter.

Den Winter habe ich geliebt. Die Sonne, die in den frühen Morgenstunden aus hundertfünfzig Millionen Kilometern Entfernung das Leben eines kurzen Tages aufzutauen vermag und die schneebedeckten Berge mit ihrem eigenen Orange überzieht. Das Knirschen unter den Füßen, das die Stille in ihre Schranken weist und die Eiskugeln in meinem Bart, die das Lächeln in jeder Stoppel spürbar machen. Ich sehe dich an der Skipiste hinunter nach Corvara stehen, kurz vor dem schrägen Hang, den du so fies findest mit seinen Eisplatten. Auf denen man sich dem Tal bar sportlicher Eleganz nähert. Und das glückliche Lachen im Sessellift nach Colfosco, wenn die Passage überstanden ist. Schon vorbei, der Winter. Es grünt ... der Frühling kommt.

Ich hasse Operationen. Überall grüne Tücher, grüne vermummte Gestalten, die meine Starre für eine Weile gegen Bewusstlosigkeit tauschen.

Gleich schneiden sie mich wieder auf, keine Ahnung an welcher Stelle. Obwohl ich sie hasse, sind Operationen wie der Frühling. Die blaue Neonsonne und der Rausch des Äthers frieren mich ein. Wenn ich später auftaue, hoffen weiße und grüne Kittel gemeinsam mit dir und mir darauf, dass sich eine Knospe im fleischlichen Rest meines Lebens zeigt. Hoffen, dass irgendein kleiner Schritt nach vorn diesen fortwährenden Herbst besiegt.

***

„Ich grüße Sie, Frau Lindner. Er hat die Operation gut überstanden. Wir sind guter Dinge, dass Ihr Gatte vielleicht doch nach zwei langen Jahren wieder zurück ins Hier und Jetzt findet. Da ist ein erstes Anzeichen.“
„Herr Professor, diese ganze Zeit ohne ein Signal, das mir Hoffnung macht. Was kann das sein, das Sie für ein Anzeichen halten?“
„Ihr Mann kämpft, Sie müssen es auch weiter tun. Heute früh hat er einen Zeigefinger gehoben, als ich bei ihm war! Und mit den Augen geblinzelt!“
Marita sieht durch die Glasscheibe. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Gehen Sie ruhig zu ihm!“, lädt er sie mit einem ausgestreckten Arm ein.

Sie tastet sich vorsichtig in den Raum. Das Signal des Beatmungsgerätes klingt wie die erste Amsel des Jahres. Sie streicht ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn.
„Hallo mein Held. Hab ich dir heute eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?“


Letzte Aktualisierung: 26.04.2010 - 11.14 Uhr
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