Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Abwärts | Mai 2010
Hedwigs Stammplatz
von Anne Zeisig

Der alte Heinrich zeterte, als ihn die junge Frau vom ambulanten Pflegedienst mit dem Rollstuhl ins Wohnzimmer schob.
"Ich war nicht immer so ein nutzloser alter Tattergreis!”
"Ich glaube, Sie haben Ihr HörgerÀt nicht korrekt eingestellt", bemerkte die Pflegerin und hielt sich die Ohren zu.
Heinrichs Frau Hedwig saß auf dem Sofa und hĂ€kelte an einem Topflappen. "Ich habe ihm oft genug gesagt, dass er nicht am GerĂ€t rumfummeln soll. Heinrich! Man kann es nicht lauter einstellen!” Sie zeigte zum Balkonfenster: "Wenn die mit der Fassade fertig sind, wird es hier wieder ruhiger.”
Die junge Frau schob die Gardine der BalkontĂŒr beiseite und platzierte Heinrich davor. Seit es die Baustelle gab, war das sein Lieblingsplatz.
Er tĂ€tschelte die Hand der Pflegerin. "Meine Frau und ich sind mit dem Haus zusammen gebrechlich und marode geworden.”
Die Altenpflegerin stellte die Fußbremse des Rollstuhles fest und sah auf die Uhr.
"FrĂŒher war ich GerĂŒstbauer!" Er blickte interessiert aus dem Fenster.
Hedwig legte ihre HÀkelarbeit auf den Tisch und rieb an ihren Fingerknöcheln: "Verflixtes Rheuma." Auch sie schaute auf die Uhr.
"Die haben im GerĂŒst zu wenig Querstreben eingesetzt!”, rief Heinrich.
Hedwig schĂŒttelte den Kopf und ließ sich vom Sofa hoch helfen.
Die junge Frau lÀchelte: "Ich nehme Sie mit hinunter."
Die Greisin nickte heftig mit dem Kopf: "Ja. Gerne. Wie jeden Mittwoch. Ich werde doch nicht auf meinen Caféhausbesuch verzichten."
Die Pflegerin nahm Hedwigs Arm: "Schmeckt der Kaffee dort so gut?”
"Die bieten guten Espresso an. Und ich schmökere gerne in den Zeitschriften. Im Fernsehen kommt ja kaum was ĂŒber die KönigshĂ€user.” Sie blickte zu Heinrich. "Und du musst noch deine Arm-Übungen machen! MĂŒssen ja nicht alle Muskeln verkĂŒmmern!”

Stufe fĂŒr Stufe gingen sie aus der zweiten Etage hinab: "Das gefĂ€llt mir, dass ihr Mann ein wenig trainiert."
Hedwig zog ihre Stirn kraus: "Er muss! Ich kann ihn mit meinen krachenden Knochen nicht immer durch die Wohnung kutschieren. Und den Hebel an der BalkontĂŒr soll er auch alleine betĂ€tigen, wenn ihm nach frischer Luft ist."
Die Pflegerin nickte: "SelbstÀndigkeit ist wichtig."
Hedwig hielt sich am GelĂ€nder fest: "AbwĂ€rts geht es einigermaßen", und zwinkerte ihrer Begleiterin zu, "hinauf bringt mich immer der nette junge Kellner." Sie lachte: "Ricardo. Italiener. Mit starken Armen."
. . .

Heute setzte Hedwig sich nicht draußen auf ihren Stammplatz. Sie suchte sich im CafĂ© einen Fenstertisch aus.
"Signora! Abba scheint oh sole mio! WĂ€rme ist gut fĂŒr die Knochen!” Ricardo stellte eine Tasse heißen Espresso vor Hedwig auf den Tisch und legte einen Stapel Zeitschriften dazu.
Hinter der Theke stand der Wirt und polierte GlĂ€ser: "Frau Hedwig! Was ist los? Sie sitzen doch lieber draußen."
Die alte Dame ordnete ihren Dutt: "Die Baustelle. Zuviel LĂ€rm." Dann lachte sie und flĂŒsterte Ricardo zu: "Hier kann mir wenigstens keine Taube in den Espresso kacken."
"Signora, Signora." Der Kellner schnalzte mit der Zunge. "Aber alles Gute sonst kommt von oben", sagte er und ging hinaus.
Hedwig blies mit gespitzten Lippen in ihre Tasse, nippte daran und vertiefte sich in die LektĂŒre.

Vor dem CafĂ© fuhren Firmenfahrzeuge vor, brachten Baumaterial fĂŒr die Fassade und fuhren wieder ab. Arbeiter liefen auf dem StahlgerĂŒst umher und befestigten mit Bohrschraubern die DĂ€mmung. Das machte einen HöllenlĂ€rm.
Die alte Dame stöhnte und schaute hinaus. Wann wĂŒrde es mit der Unruhe ein Ende haben?
Ricardo wischte draußen Tische und StĂŒhle ab. Er sah hinauf und zuckte mit den Schultern: „Keine Paloma zu sehen!”
Hedwig lÀchelte und wandte sich wieder den Zeitschriften zu.
"Hör auf, draußen abzuwischen!”, hörte sie den Chef des CafĂ©s rufen, "bei dem Radau setzt sich da niemand hin.”
. . .

Hedwig musste beim Lesen eingenickt sein. Aus der Ferne drang Sirenengeheul an ihre Ohren.
Ihre Lesebrille war hinunter gefallen. Sie rieb sich die Augen und schaute hinaus. Vor dem Fenster hatte sich eine Menschentraube gebildet. Die Leute sprachen aufgeregt durcheinander und einigen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Ricardo lief lamentierend hin und her: "Mama mia! Welche UnglĂŒck. Muss ich sagen Hedwig!"
Aber er wurde von seinem Chef zurĂŒck gehalten. Der redete auf ihn ein und blickte mehrmals verstohlen zum Fenster.
Hedwig stand langsam auf und schlurfte zur TĂŒr. In dem Moment betraten drei Arbeiter das CafĂ© und setzten sich an die Theke: "Jetzt erst mal nen Schnaps."
"Oh manno! Der Alte hat sich tatsĂ€chlich an der BalkonbrĂŒstung hoch gezogen! Hat mir was von Querstreben zugerufen. Der Krach! Hab kaum was verstanden. Plötzlich beugt der sich rĂŒber! Ich habe noch gerufen `Nicht!ÂŽ"
Sein Kollege klopfte ihm auf die Schulter.
Der dritte Kollege schĂŒttelte fassungslos den Kopf: "Der ist voll hier unten auf einen der vorderen Tische geknallt."
Hedwigs Knie zitterten. Sie klammerte sich an der TĂŒrklinke fest.
"Stell dir vor, da hÀtte jemand gesessen."

Anne Zeisig, Mai 2010

Letzte Aktualisierung: 21.05.2010 - 23.40 Uhr
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