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Abwärts | Mai 2010
Flugstunden
von Elsa Rieger

Nach seiner Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung eine Steige Salatherzen zwischen die Beine seiner Mutter geschoben, wäre er mit dem Kopf voran auf den Fliesen zerschellt.
Der Vater, der ums Eck an der Fleischtheke anstand, um Schnitzel für das Sonntagsessen auszusuchen, wurde durch das Kreischen einer Frau alarmiert, die danach über den Orangen ohnmächtig zusammenbrach. Inzwischen war seine Frau sanft auf den Boden gelagert worden, auf ihrem Bauch sein Sohn. Der Notarzt war schon unterwegs.

Pit war das lang ersehnte Kind, beim Stillen sagte die Mutter immer wieder erstaunt, „du bist kopfüber in die Welt gestürzt, so was.“
Der Vater meinte: „Der Junge wird sicher Großes tun im Leben – so eilig, wie er es hatte.“

Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und verschaffte sich einen Überblick. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Mit ausgestreckten Armen segelte er hinab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer. „Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Zitternd sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest, damit Pit keine Klettertürme mehr bauen konnte.

Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei „Juhu, Mama!“ durch die Salatsetzlinge. Sie verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme aus und stieß sich ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett lag; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“

Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch über die höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut, denn Pit sprang nirgends mehr hinunter. Ein einziges Mal nur konnte er einen Sturz spüren in dieser Zeit – er schluckte mit ein paar Freunden LSD, schwebte und fiel lange Stunden durch sein inneres Weltall. Nachdem ihn jedoch nach dem Trip grauenhafte Kopfschmerzen heimsuchten, ließ er die Finger davon. Doch bei all dem vermisste Pit ein besonderes Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte.
Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus, weil er immer wieder vage davon träumte.
Sie wand sich und lächelte nur.

„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er den Eltern nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er Selbstversuche einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „Mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Sofort nach der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Paragliding ein. Danach schaffte er sich von seinem Ersparten einen Gleitschirm an. An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er eine Steilwand gefunden, die eintausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Dann zog er den Schirm auf und rannte los. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Nach zwei Stunden landete er in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf einen Zweitausender. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, sagte Pit, der beginnende Morgenwind raubte ihm den Atem. Er rannte los, die Luftkammern des Schirms füllten sich und seine Sprünge berührten kaum mehr den Boden. Kurz vor der Kante hob er ab, rauschte darüber, schwebte höher und höher. „Frei“, flüsterte er und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter. „Frei!“, schrie er.
Pit legte sich in die Kurve, immer steiler und wirbelte in einer Spirale hinab, tiefer und tiefer. Als er auf der Höhe von dreihundert Metern den Schirm stabilisieren wollte, schoss ein Schatten auf ihn zu und im nächsten Moment blickten ihn Raubvogelaugen an. Erschrocken riss Pit an den Steuerleinen, verlor die Strömung und der Schirm klappte zusammen. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Pit raste abwärts. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt.

Als er zu sich kam, spürte Pit den Schlauch in seiner Kehle, hörte ein rhythmisches Atmen neben sich. Er öffnete die Augen, Neonlicht blendete ihn. Der Wunsch, sich zu verkriechen, am besten in einer tiefen Höhle, in warmer, weicher Dunkelheit, schwappte als Schmerzgefühl über ihm zusammen. Er benötigte einen Moment, um sich dagegen zu schützen, erst musste er doch wissen, wo er war, was mit ihm passierte. Pit blickte herum. Die Geräusche kamen von einer Art Blasebalg. Fiel er in sich zusammen, blähte sich Pits Brustkorb, breitete er sich aus, sank die Brust. Da waren noch viel mehr Schläuche und Kabel. Pit war komplett verdrahtet. Panik breitete sich aus, er kannte das Gefühl von irgendwann, schloss die Augen, ihm schwindelte beim Gedanken an sich selbst. Er wusste weder, wer er war, noch wo! Seine Überlegungen führten nirgendwohin, die Atemmaschine zwang ihm ihren Rhythmus auf und plötzlich rauschte ein aufgeregter Typ in weißem Mantel herein.
Dass er sich in einer Klinik aufhielt, hatte Pit mittlerweile verstanden, aber sonst nichts.
Der Arzt sah aus wie ein Grubenarbeiter mit seiner Stirnlampe. Es setzte sie in Betrieb, zog Pits Augenlider auseinander und leuchtete ihm in die Pupillen. „Alles bestens“, sagte er abschließend, „willkommen zurück in der Welt!“
Aber was für eine Welt war das nur, fragte sich Pit. Er traute sich nicht, den Arzt auszufragen, wollte nur zurück ins Dunkel.

Pit akzeptierte, dass das Ehepaar bei seinem ersten Besuch behauptete, sie seien seine Eltern. Wenigstens wusste er aus Erzählungen, dass er drei Monate in ein künstliches Koma verbannt worden war, damit ein komplizierter Schädelbruch heilen konnte.
Nach einem Reha-Aufenthalt, der jedoch sein Gedächtnis auch nicht wieder brachte, baten die Eltern ihn, heimzukommen. Pit wagte einen ersten Besuch. Er sichtete das Zimmer seiner Kindheit und Jugend, alle Gegenstände schienen ihm fremd, geradezu unheimlich. Viel zu hell und blankgeputzt waren die Räume, in denen er angeblich aufgewachsen war. Am Liebsten lag er unter seinem Bett. Er zog die Zierdecke bis zum Boden herab, dann war es wohlig dunkel dort. Sein Studium, seine Ambitionen, höher und höher zu steigen, seine Begeisterung fürs Herabsegeln, alles war ausgelöscht. Im Gegenteil, die Geschichten darüber waren rätselhaft und bedrohlich. Denn niemals würde er auf einen Berg klettern wollen! Bei dem kleinsten Gedanken daran begann die Narbe auf seiner Schädeldecke wie verrückt zu jucken.
Er spazierte durch die Wälder der Umgebung, wartete darauf, sein bisheriges Leben wiederzubekommen und studierte derweil Ameisenhügel, Maulwurfsstollen, das Unterirdische, das ihn maßlos faszinierte. Er meldete sich zu einem Höhlengang an. Mit der Zeit bezwang Pit immer größere und vor allem tiefere Grotten und Höhlen. Es artete zu einer Sucht aus. Das hohle Tropfen von den Wänden, der Hall, den ein Seufzer Pits erzeugte, die Dunkelheit beglückten ihn.
Eines Tages, er kroch schon lange verbotenerweise ganz ohne Führung durch die Unterwelt, endete der Gang vor einem Absturz. Pit schätzte die Tiefe auf einhundert Meter. Etwas in ihm wollte die Arme ausbreiten und abwärts schweben! Mit aller Willenskraft stemmte er sich dagegen und umklammerte den Tropfstein neben ihm. Er presste die Lider zusammen, hoffte, wenn er den Abgrund nicht mehr sah, würde das Gefühl abklingen, sich dort hinabwerfen zu wollen. Er schrie erstmals nach dem Erwachen aus dem Koma, der Schrei vervielfachte sich, schlug von den Wänden zurück, schraubte sich in Pits Gehörgang. Dazu zeigte ihm sein Gehirn Bilder eines Adlers, der durchs Blau segelte, ihn selbst, wie er pfeilschnell auf einen Wald zuschoss.
Er zitterte, die Beine knickten ihm weg und er sank an dem Fels zu Boden.

Als Pit danach in das Haus seiner Eltern zurückkehrte, sagte er: „Mama, Papa, wisst ihr was? Ich bin als Flieger geboren! Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Weiter, Mama, viel weiter.“ Er stand im Sonnenlicht, streckte die Arme dem Himmel entgegen und lachte.

Letzte Aktualisierung: 10.05.2010 - 12.48 Uhr
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