Mainhattan Moments
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Abwärts | Mai 2010
Beruhigung in hohen Dosen
von Gisela Reuter

Bereits während der Kapitän das baldige Erreichen der achttausend Meter Flughöhe androht, beginne ich zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft über meine Bestattung nachzudenken. Ob Tante Elisabeth wohl an meinem Grab weinen wird? Und welche Musik werden sie in der Leichenhalle spielen? Kann man sich im Vorfeld etwas wünschen? Ich möchte, dass „Feel“ von Robbie Williams gespielt wird. Oder „Waltzing Mathilda“ von Rod Stewart.
Das hier werde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht überleben. So oder so. Entweder wir stürzen ab oder ich erliege einem Infarkt.

Ich schaue vorsichtig auf meine Armbanduhr. Noch exakt neunzig Minuten Flugzeit. Was will ich eigentlich auf Mallorca?
Dieses blöde mulmige Gefühl in meinem Magen könnte nun langsam nachlassen.
Nervös blicke ich auf die Stewardess, die souverän den Getränkewagen durch den schmalen Gang steuert.
Sie lächelt mir aufmunternd zu.
„Ein Bier, bitte“, flüstere ich und meine Fingernägel graben sich tief in die Armlehnen.
Eine Freundin hat gesagt, bei Flugangst würde ein Bier den Magen und die Nerven beruhigen.
Mein Sitznachbar wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Ok, es ist erst vier Uhr morgens. Beschämt ziehe ich die Schultern hoch und nehme den ersten Schluck. Er murmelt etwas von einem Alkoholproblem, ich spüre, dass ich erröte und nehme tapfer den zweiten Schluck. Und einen dritten.
Angewidert wendet sich mein Nachbar ab.
„Flugangst“, wispere ich und stelle mit zitternden Händen den Pappbecher ab.
Das scheint ihn milde zu stimmen und er schaut mich mitleidig an. Und dann ergießt sich ein Wortschwall über mich, von seiner Frau, die auch unter diesen Ängsten leidet und von einem Absturz in Madrid und von seinen Kindern, die aus Überzeugung nur mit dem Zug verreisen.
Hilfe!
Hin und wieder nehme ich verzweifelt einen Schluck und versuche vergeblich, nicht zuzuhören.
Als er bei seiner schwerhörigen Schwiegermutter angekommen ist, die man neulich wegen beginnender Demenz ins Altenheim verfrachtet hat, stelle ich mit Entsetzen fest, dass meine Bierdose leer ist. Aber Angst habe ich noch immer. Ich winke der Stewardess und bestelle Nachschub. Am besten gleich zwei Dosen, man weiß ja nicht, wann das Zeug wirkt.

Mit angehaltenem Atem fixiere ich das Zifferblatt meiner Armbanduhr.
Noch sechzig Minuten.
Mein Mund ist trocken.
Hektisch fülle ich meinen Pappbecher.
Noch neunundfünfzig Minuten.
Ich leere ihn in einem Zug.
Achtundfünfzig Minuten und dreißig Sekunden.
Ich gieße wieder nach.

Mein Nachbar berichtet mittlerweile ausschweifend und mit stolzgeschwellter Brust von seinem jüngsten Enkel, dem Robin-Alexander, der im zarten Alter von vier Jahren irgendeinen Preis bei irgendeinem Wettbewerb der musikalischen Früherziehung gewonnen habe. Und überhaupt sei er hochbegabt. Ja, ein richtiges kleines Genie. Das hätte übrigens das Frollein im Kindergarten bereits am ersten Tag erkannt.
Ich tippe auf das Überspringen von mindestens drei Grundschuljahren und beschließe, meine überhöhte Adrenalinausschüttung mit einem weiteren Schlückchen einzudämmen.
Das Öffnen der dritten Dose misslingt wegen plötzlich auftretender feinmotorischer Schwierigkeiten. Ich stiere auf den Verschluss und verfalle in leichte Panik.
Der freundliche Nachbar ist sehr aufmerksam und steht mir hilfreich zur Seite.
Ich bekomme Schluckauf.
„Tschulligung.“
„Macht nichts“, beruhigt er mich, füllt galant meinen Pappbecher und erwähnt beiläufig, dass Robin-Alexander, dieses Wunderkind, manchmal auch Vorahnungen hat.
„Er hat sich gestern von mir verabschiedet, als würde er mich niemals wiedersehen – hoppla –“ Geistesgegenwärtig fängt er die Bierdose auf, die ich beim hektischen Greifen nach meinem Becher umgeschmissen habe.

Uff!
Der Alkohol ist machtlos gegen das Adrenalin. Mein Herz schlägt unangenehm laut.
Vorahnung.
Niemals wiedersehen.
Flugzeugabsturz.
Die Worte dröhnen in meinem Kopf.
Ich hab’s geahnt. Wir werden es nicht überleben. Wieso sind die anderen Passagiere so gelassen?
Und wo ist eigentlich die Stewardess?
Ist sie schon mit dem Fallschirm abgesprungen?
Wusste sie etwas, was wir nicht wissen?
Wieso macht der Käpt’n keine Ansage?
Meine Beine zittern.
Ich muss zur Toilette.
Ich traue mich nicht, aufzustehen.
Noch vierzig Minuten.
Ich schwöre, ich werde nie wieder fliegen.

Während des Berichts, dass Robin-Alexander bereits seit zwei Jahren das kleine Einmaleins perfekt beherrscht, greife ich zur Brechtüte. Angst und Alkohol vertragen sich nicht.
Ich will hier raus.
Der Nachbar soll aufhören zu reden.
Ich würge.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, unterbricht er seinen Monolog.
Ja, halt die Klappe.
Sollte ich jemals wieder heil herunterkommen, werde ich den Erfinder des Flugzeugs verklagen. Jawohl! Wobei – lebt der überhaupt noch? Wenn nicht, wie mag er um’s Leben gekommen sein? Er wird doch wohl nicht etwa bei einem Flugzeugabsturz –?

Mit bebenden Händen suche ich nach einer Öffnung in der Tüte.
Die Stewardess eilt hilfreich herbei. Sie ist also nicht abgesprungen.
Ich habe berechtigten Grund zur Hoffnung.
Meinem Magen ist das offensichtlich egal. Er will das Bier loswerden.
Die Tütenöffnung ist recht klein. Das erkennt auch Herr Nachbar und noch bevor ich ungewollt die Tüte fülle, springt er hektisch auf der Gang.
Die Stewardess legt mir beruhigend ihre Hand auf die Stirn.

Vom Applaus der Mitreisenden werde ich aus meiner Ohnmacht ins Leben zurückgeholt. Mir ist schlecht, aber wir sind offenbar wieder gelandet. Noch bevor es mir gelingt, meine Augen zu öffnen, höre ich, wie mein geschwätziger Nachbar etwas von Schiffen und Zügen faselt. Reizvolle Ideen, die mich sogar ans Ziel bringen könnten. Und immerhin eine Alternative zu meinem ersten Gedanken, für immer auf dieser verfluchten Insel zu bleiben.

Vielleicht sollte ich auch einfach kein Bier mehr trinken.


© Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 14.05.2010 - 15.05 Uhr
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