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Abwärts | Mai 2010

Die Tür
von Susanne Ruitenberg

Eines wusste Lily sicher: Als sie vor Monaten das Haus zum ersten Mal besichtigt hatten, gab es diese Tür nicht. Die hintere Wand der Waschküche war eine glatte Steinfläche. Keine Tür weit und breit. Spätestens beim Renovieren, als sie den ganzen Keller mit weißer Wandfarbe bearbeitet hatten, wäre ihnen eine Tür aufgefallen.
Oder?
Auch beim Umzug oder in den letzten beiden Wochen, in denen sie sich hier einlebten, blieb die Wand makellos.
Heute Morgen war die Tür auf einmal da. Sie stand offen, und ein schwarzes Loch klaffte in der Wand. Vor Schreck ließ Lily den Korb mit der dunklen Wäsche fallen. Jiffy, der ihr gefolgt war, bellte empört und sprang zur Seite. Sodann näherte er sich vorsichtig, mit eingekniffenem Schwanz, der Öffnung. Als er zwei Meter entfernt war, fiepte er, als hätte ihm jemand einen Tritt gegeben und floh nach oben.
„Steve!“, brüllte Lily.
Polternde Schritte auf der Kellertreppe. „Au, pass doch auf, dummer Köter.“ Steve kam in den Raum geeilt. „Was ist passiert?“
„Da!“ Sie zeigte auf die Öffnung, die wie ein aufgerissenes Maul in der Wand gähnte. Ihre Hand zitterte, sie steckte sie in die Hosentasche.
Steve ging vorsichtig auf die Wand zu. „Wie hast du das gemacht?“
„Gar nichts habe ich gemacht. Sie war einfach da!“
„Lily, eine Tür fällt nicht vom Himmel!“ Er blieb an der Schwelle stehen. „Stockdunkel. Ich sehe nicht einmal, ob es eine Treppe gibt.“ Er holte sein Handy aus der Tasche, hielt das leuchtende Display vor sich und hob den Fuß langsam durch die Öffnung. „Man sieht nichts, das Licht verschwindet, als würde es geschluckt.“
„Sei vorsichtig!“, rief Lily.
Steve schob seinen Kopf über die Schwelle. Unvermittelt sprang er mit einem Aufschrei zurück.
Lily eilte zu ihm. „Was hast du?“
Er schüttelte den Kopf. „Es ist – unheimlich. Unendlich tief. Eiskalte Luft, man kann kaum atmen, merkwürdige Geräusche. Ein Heulen oder Jaulen.“ Mit weit ausholender Handbewegung knallte er die Tür zu und schob den Riegel vor. Sein Gesicht war blass.
Lily betrachtete die Tür. Sie sah aus, als wäre sie Jahrhunderte alt. Dunkles, schweres Holz, grobe Maserung. Kratzer. Sie schüttelte sich.

Als sie zwei Stunden später in den Keller ging, um die Waschmaschine zu leeren, stand die Tür offen.
Lily machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe hoch.

„So“, sagte Steve und hämmerte den letzten Nagel in die Wand, „wollen wir mal sehen, ob du das weg bekommst.“
Er hatte alle verfügbaren Bretter aus dem Schuppen über die Tür genagelt. Lily betrachtete das Machwerk. „Wenn das nichts hilft, will ich die Waschmaschine hier raus-, und den ganzen Raum zugemauert haben! Wer weiß, was sich da unten verbirgt. Ich habe Angst!“
Steve warf den Hammer in den Werkzeugkasten und stemmte die Hände in die Hüften. „Morgen rufe ich den Makler an. Das stand auf keinem der Pläne, dass es noch einen Keller gibt. Dafür sollte er besser eine gute Erklärung haben.“ Er nahm sie beim Arm und führte sie zur Treppe. „Vielleicht hocken wir auf einem unterirdischen Waffenlager oder einer Schmugglerhöhle. Da kann sonst was passieren. Nicht mit mir!“
Für den Rest des Tages mied Lily den Keller. Die helle Wäsche vertagte sie auf einen unbestimmten Zeitpunkt.

In der Nacht träumte sie, dass ein haariges Ungeheuer sie durch den Keller jagte. Immer näher kamen polternde Schritte, schon spürte sie einen heißen Atem in ihrem Nacken, während ohrenbetäubendes Geheul den ganzen Raum füllte.
Als sie mit einem Aufschrei erwachte, das Nachthemd schweißnass an ihrem Körper klebend, wusste sie sofort, dass sich etwas verändert hatte. Sie schaltete die Nachttischlampe an. Steve schlief neben ihr, eingerollt in seine Decke. Er schnarchte so laut, dass es einer Explosion bedurft hätte, um ihn zu wecken. Gut. Aber was ...? Ihr Blick schweifte durch den Raum und blieb am Hundekörbchen haften.
Leer.
Wo war Jiffy? Er verließ nie das Schlafzimmer in der Nacht, nicht einmal zum Fressen. Da hörte sie einen markerschütternden Schrei. Sie rüttelte an Steves Schulter. „Wach auf!“
„Wassis?“ Er schüttelte den Kopf. „Was hast du, es ist doch erst fünf!“
„Jiffy ist weg!“
„Er wird was fressen.“
„Das tut er nie nachts, das weißt du. Außerdem habe ich einen Schrei gehört.“
Steve schwang sich aus dem Bett. „Wenn es dich beruhigt, gehe ich nachsehen.“
Er trat auf den Flur. „Jiffy? Jiffy, wo bist du?“
Lily trank einen Schluck Wasser. Ihre Hand zitterte und sie verschüttete die Hälfte. Verdammt! Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuhe und folgte Steve. Er hatte alle Lampen angeschaltet. Weder im Wohnzimmer noch in der Küche war er zu sehen. Die Tür zum Keller stand offen. Sie ging darauf zu. „Steve? Bist du hier unten? Hast du Jiffy gefunden?“
Er kam die Treppe hoch. „Hier ist er nicht.“
„Und die Tür?“
„Verrammelt.“ Er sah sie nicht an. Log er? Lily überlegte, ob sie selbst nachsehen sollte. Nein, auf keinen Fall würde sie nachts in den Keller gehen! Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht hat er sich versteckt, es stehen genug Kisten herum.“
Sie legten sich wieder ins Bett. Lily kroch unter die Bettdecke und hielt sich die Ohren zu. Irgendwann schlief sie ein. Sie träumte von Jiffy. Er saß auf einem Brett und trieb auf einem Fluss, außer Reichweite, auf einen Wasserfall zu. Sie stand am Ufer und weinte.
Als sie aufstanden, war von Jiffy keine Spur zu sehen.
Die ominöse Tür stand offen, alle Bretter lagen im Keller verstreut, wie von einer Riesenhand abgerissen. Das Heulen aus der Tiefe war lauter als gestern. Lily spitzte die Ohren. Klang das nicht wie ein jaulender Hund?
„Jetzt reicht’s mir“, polterte Steve. „Du nimmst deinen Wagen und fährst zu diesem verdammten Makler. Am besten, du bringst den Kerl gleich mit, dann kann er sich das mit eigenen Augen ansehen. Ich gehe in den Baumarkt und besorg' Material, um eine Wand vor die Tür zu ziehen.“
„Und wenn er nicht mitkommen will?“
„Lass dir was einfallen.“ Er drehte sich um und sprintete die Treppe hoch. Lily beeilte sich, ihm zu folgen. Allein im Keller bleiben, mit diesen unheimlichen Geräuschen im Ohr? Nein!

Als sie zwei Stunden später wieder daheim ankam, stand Steves Wagen in der Einfahrt. Auf der Ladefläche des Pickups türmten sich Zementsäcke und auf dem Anhänger befanden sich die Reste mehrerer geöffneter Packungen Backsteine. Sie parkte ihren Mini und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Wie sollte sie es Steve begreiflich machen?
Der Makler, der ihnen das Haus verkauft hatte – weg!
Sein Büro in der Lincolnstraße – weg.
Das Haus, in dem sich das Maklerbüro befunden, und das sie für seinen originellen, orangefarbenen Putz bewundert hatte – jetzt eine baufällige Ruine, die wie ein fauler Zahn in einem makellosen Gebiss zwischen den anderen Häusern hing, gehalten nur von den Mauern der Nachbarn.
In der Reinigung gegenüber hatte der Besitzer sie schräg angesehen, als sie nach dem Makler fragte. Es hätte hier nie einen Makler gegeben.
Die Bruchbude gegenüber sähe schon seit Jahren so aus.

Sie stieg aus und betrat ihr Haus. „Steve? Ich bin zurück.“ Alles war ruhig.
Zu ruhig.
„Steve?“
Sie warf ihre Handtasche auf die Garderobe und ging in die Küche. Die Tür zum Keller stand offen. Sicher war er mit der Mauer beschäftigt und hatte sie nicht gehört. Lily ging die ersten Stufen hinab und spitzte die Ohren. Gleich würde sie das Geräusch einer Maurerkelle hören, die über Stein schabte, oder die Bohrmaschine beim Zementanrühren.
Stille.
„Bist du hier unten?“
Sie betrat die Waschküche und erstarrte. Die Tür stand offen. Mit Mörtel beschmierte Backsteine lagen über den ganzen Boden verstreut, manche zerbröselt. Eine Kelle steckte in einem Eimer mit angetrocknetem Zement. Es sah so aus, als hätte Steve die Mauer fertig gehabt. Und dann ... war etwas von innen ausgebrochen?
„Steve?“
Hundegebell drang plötzlich aus dem finsteren Loch, das in ein hohes Winseln überging.
„Jiffy?“
Lily näherte sich der Türöffnung.
Hilfe!
„STEVE? Bist du das? Warte, ich komme.“
Ein Schrei.
Lily schluckte. Licht, sie brauchte Licht. In welcher verdammten Umzugskiste war die Taschenlampe? Warum hatten sie die noch nicht ausgepackt? Wo sollte sie suchen, bei den vielen ...
Ein Schrei, lauter, gequälter.
Sie holte ihr Feuerzeug aus der Tasche und leuchtete in die Öffnung. Stufen führten nach unten, notdürftig durch das Lichtlein in ihrer Hand sichtbar gemacht. Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe. Dann auf die zweite. Es wurde immer dunkler.
Mit dem fünften Schritt trat sie ins Leere.
Sekunden später schlug das Feuerzeug in der Tiefe auf.

©Susanne Ruitenberg

Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 14.04 Uhr
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