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Abwärts | Mai 2010

Ferienspiele
von Ingrid Gertz

Niemand sagt etwas, unmöglich jetzt zu sprechen. Und das nicht nur, weil wir gehört werden könnten. Im Stall ist es noch wärmer als draußen. Mittagshitze gluckt über dem Hof, unterdrückt jedes Lüftchen und lässt scharfe Ammoniakdämpfe hochwabern.
Harry kommt mir jetzt ganz anders vor, nicht halb so erwachsen, wie er manchmal tut. Vielleicht liegt das am Klang seiner Stimme?
„Bleibt bloß ganz still! Ist besser, wenn uns keiner sieht!“
Heiser, kurzatmig, gehetzt sagt er das. Und völlig grundlos. Uns hat es sowieso die Sprache verschlagen.
Harry ist nicht so cool, wie er immer gern vorgibt. Scheint, genau wie wir, die Hosen gestrichen voll zu haben und ist vor Aufregung ganz hibbelig.
„Oh, Mist, entschuldigt, keine Absicht!“ Außerdem weiß er wieder nicht, wohin mit seinen Griffeln. Hat einen Schalter erwischt, und jetzt tauchen Infrarotlampen die Schweinekoben in warmen Schimmer.
Harrys Ansprache zum Stillschweigen brauchen wir jetzt, genau wie seine unüberlegten Knipsereien, so dringend wie einen Kropf.
„Halt doch gefälligst selber die Gusche, Langer!“, zischt Klaus. „Wir kriegen's wegen deinem Gesabbel doch überhaupt nicht mit, wenn die Luft rein ist!“
Harry ist zwei Jahre älter als wir, drückt aber trotzdem noch mit uns zusammen die Schulbank. Den Anpfiff überspielt er mit unsicherem Grinsen.
Groß ist er, fast schon so groß wie ein Erwachsener. Und im Dunkeln und bewegungslos könnte man ihn dafür halten. Aber wehe, Harry bewegt sich. Mit der Koordination von Händen und Füßen, da hapert's nämlich. Erinnert mich an unseren jungen Schäferhund. Der platziert seine Riesenpfoten auch immer dort, wo am meisten zum Teufel geh'n kann.
Nichts gegen Harry, mit dem kann man Pferde stehlen – wenn man ihn zum betreffenden Pferd trägt. Die großen Ohren, sein langes Gesicht mit den kräftigen Zähnen und seine unkontrollierte Schlaksigkeit, die machen ihn aber auch zur Lachnummer, zum Abklatsch von Don Camillo in kurzen Hosen.
Jetzt hocken wir also hier im Heinrich'schen Schweinestall. Und wir stecken, verdammt noch mal, alle vier echt in der Scheiße.

Bauer Heinrich war nie unser Freund.
Er hatte, wie alle Bauern, ganz entschiedene Einwände gegen unsere Ausflüge durch die Schober und Ställe des Dorfes. Und er ließ uns das auch gerne und lautstark wissen, wetterte jedes Mal mordsmäßig und schwang die Forke, wenn wir ihm bloß über den Weg liefen: „Saukechel! Saukrepel! Macht, dass ihr fortkommt! Ich werd' euch schon Beine machen, ihr Rotzlöffel!“
Doch seine Aufstände gaben uns erst recht den Kick. Jedes Spiel auf Heinrichs Grund war vom wohligen Prickeln des Verbotenen begleitet. Erlaubtes konnte schließlich jeder.
Wir waren wie ein lästiger Schnupfen, der sich alljährlich zur gleichen Zeit einfand und erst mit Beginn des neuen Schuljahres vorüberging, egal was man dagegen unternahm.
Die Zeit der Sommerferien, in der sich die örtlichen Scheuern mit frischem Stroh füllten und wir versuchten, unsere endlos langen Tage herumzubringen, geriet für die Bauern jedes Jahr aufs Neue zur Heimsuchung.
Für uns war sie ein einziges großes Abenteuer.
Bauer Heinrich bewachte sein Anwesen besonders streng. Es kam einem kleinen Kunststück gleich, überhaupt in seine Feldscheune zu gelangen.
Meist, als hätte er nur darauf gewartet, stand er dann wie aus dem Boden gewachsen da und drohte uns mit der Heugabel ein paar Zusatzlöcher im Hintern an.
Normal und richtig wäre es gewesen, um den Heinrich und seinen Hof einen weiten Bogen zu schlagen.
Aber wer oder was ist das schon: Normal?

„Heinerich, der Wagen bricht! Ohne Räder fährt er nicht!“, bekam er seit seinem ersten Gabelauftritt regelmäßig von uns zu hören. Und er fand den Sprechgesang, immer vorgetragen aus sicherer Entfernung, überhaupt nicht lustig. Gut so!
Wir frequentierten weiter seine Feldscheune, kassierten weiter die verlegten Eier, gruben weiter Höhlen ins Stroh, waren aber wachsam.
Denn wenn man sich auf jemanden verlassen konnte, dann auf Heinrich: Der Bauer ließ uns einfach nicht in Ruhe, sondern vertrieb uns wie gehabt im schönsten Spiel, versaute weiterhin jeden Spaß, und er hasste uns wie die Pest.

Alle Ferientage begannen auf der Milchbank, unserem Treffpunkt. Hier langweilten wir uns gemeinsam, stritten miteinander, schmiedeten Pläne und erörterten die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.
„Was hat der nur? Bewacht den ganzen Tag seine dämliche Scheune, als wär da drin ein Schatz vergraben!“ Klaus ließ seine braungebrannten Beine von der Bank baumeln, legte die Stirn in gewichtige Falten und erklärte, dass der Heini überhaupt für seine Gabelfuchtelei noch was gut bei uns hätte: „Das lassen wir dem nicht durchgehen! Wär' ja noch schöner! Jemand Vorschläge, Männer? Lasst mal hören!“

Gleich am nächsten Tag schrumpfte der Freundeskreis des Bauern, denn an der Haustür unseres Dorfsheriffs pappte das gelbe Schild von Heinrichs Koppel:
Vorsicht!
Freilaufender Bulle!

Waren wir etwa schuld, wenn Heinrich sogar seine blöden Schilder mit Initialen kennzeichnete, nicht anders als ein raunziger Kater?
Er konnte sich jedenfalls prächtig aufregen, kriegte schon den Rotlauf im Gesicht, wenn er uns nur erblickte. Und seine vorstehenden Augen würden, das prophezeite Harry mit Kennermiene, ihm bei einem seiner Wutanfälle wohl einfach mal herausglubschen. Es wäre nur eine Frage der Zeit und so was sähe man nicht alle Tage.

Bin ich aber überhaupt nicht mehr scharf drauf. Wie der Heinrich heute geschaut ... wie er ausgeschaut hat ... Das hätt' ich ums Verrecken lieber nicht gesehen!

Gegen elf schlichen wir unter seinem Küchenfenster vorbei, wollten zum Mühlgraben Schmerle stechen. Die lagen bei voller Sonne immer so schön ruhig im Schatten von Weide und Geißbart und waren da leichte Beute.
Im offenen Fenster des Bauern stand eine fette Schüssel Schokoladenpudding, wohl zum Abkühlen.
Was für eine Versuchung! Wir kamen nicht dran vorbei. Wollten das auch nicht, denn der bloße Anblick ließ uns den Zahn tropfen. Und die Fische waren vergessen.
Wir brauchten weder lange noch einen Löffel.
„Lecker war´s! Und jetzt?“ Frieder leckte sich genüsslich die puddingverschmierten Lippen und fuhr mit dem Finger noch mal durch den ausgeschleckten Napf. „Stellen wir die Kumme jetzt einfach zurück, oder lassen wir sie lieber gleich verschwinden?“
„Gib her, ich weiß da was!“ Harry griff sich entschlossen das Gefäß und verschwand damit im Ufergestrüpp des Mühlgrabens.
Kurz darauf war er zurück. Mit gefüllter Schüssel natürlich. Unter unseren angewiderten Blicken erklärte er: „Was'n? Dumm wie'n Vierpfundbrot wär ich, hat der Heini bei der Schmidtwalli gelästert, nur nicht so nahrhaft. Das ist die Revanche vom Brot! Außerdem tippt der doch sowieso gleich auf uns, also … Wenn schon, dann richtig!“ Harry stellte die Schale samt übelriechendem Inhalt zurück aufs Fensterbrett, und zwar keine Sekunde zu spät.
Drinnen ging eine Tür auf.
„ Schatz, schau doch mal, ob der Pudding schon kalt ist!“, gurrte Friederike Heinrich von irgendwoher aus der Wohnung und schwere Tritte tappten zum Fenster.
Heinrich! ... Wir machten uns ganz klein, schmiegten uns an die Mauer. Lauschten. Und hofften. Wenn er bloß nicht seinen Kopf rausstreckte …
„Nee, Frieda, er dampft noch!“
Wir hielten uns die Bäuche, waren vor lautlosem Lachen fast am Ersticken, und machten uns schleunigst vom Acker.
Hinter Heinrichs Scheune wollten wir uns eigentlich trennen. Vorm Essen hatte jeder noch zu tun: Karnickelfutter suchen, Teichlinsen fischen, Ziegen umpflocken. Lästige Aufträge standen noch aus, und die hatte man bei Fragen am Mittagstisch besser erledigt.
Bevor wir unserem Vorsatz nachkommen konnten, entdeckten wir jedoch den Neuzugang im Maschinenpark: Ein Förderband. – Nein! Eine Riesenwippe! Die Regeln für unser neues Spiel waren schnell aufgestellt: „Drei setzen sich unten hin, einer klettert rauf!“, befahl Klaus. „Auf Kommando springen die unten gleichzeitig ab!“ Das klang gut, versprach gewaltig zu rumsen.
Harry durfte als Ältester zuerst nach oben. Frieder, Klaus und ich machten es uns unten gemütlich und warteten gespannt, bis Harry hochgekrabbelt war und das Kommando geben würde. Schließlich musste er zuerst sicher sitzen.
„Ach du Scheiße!“ Noch bevor Harry so richtig in Stellung kam, verpasste mir Frieder eins in die Rippen. Seine Augen waren vor Schreck riesengroß und er blickte nicht nach oben zu Harry, sondern fixierte das Gatter, welches den Platz abriegelte. Es stand offen. Und während Harry sich oben für den Countdown fertig machte, sicherheitstechnisch und moralisch, preschte in seinem Rücken der Heinrich über den Platz, drohte mit der Forke und war mächtig im Brass.
„Oh, oh! Die Quittung für den Nachtisch ist das! Mich spießt der nicht auf, ich hau ab!“ Klaus schwang seine Beine vom Förderband. Frieder und ich hielten das, zumal der Bauer gleich am Band war, für eine brillante Idee. Wir gaben alle drei Fersengeld.
Und für Harry ging es abwärts.
Im Weglaufen sahen wir, wie das Förderband durch den Aufprall nach oben getrieben wurde, nach unten fiel, nach oben ging, immer und immer wieder. Und Harry musste den Ritt mitmachen. Er kam nicht runter.
High noon. Heute würde sich Heinrich den Harry greifen …
Wo war der Bauer überhaupt?
Unsere Wippe hatte das Schwingen eingestellt. Harry kletterte mit sichtlich wackeligen Knien herunter und winkte uns aufgeregt heran.
Sehen, was da unterm Band lag, begreifen und loslaufen … das war eins.

Hier im Schweinestall kann ich immer noch keinen klaren Gedanken fassen. Wie kommen wir bloß weg, ungesehen, wenn möglich?
Auf dem Hof ist jetzt nur noch die Walli zu hören. Bereitet alles für den Eintrieb am Nachmittag vor. Und jodelt ganz fürchterlich vor sich hin: „No milk today, die Kuh hat TBC“. Wann will sie endlich Mittag machen?
Als nur noch das träge Scharren der Hühner die Mittagsstille durchbricht, schleichen wir aus unserem Versteck. Jeder für sich schlägt den Heimweg ein.
Hab keine Ahnung, was werden wird. Bin fix und fertig. Total platt.
Fast so platt wie Bauer Heinrich, dessen Augen mich verfolgen werden.

Letzte Aktualisierung: 26.05.2010 - 11.34 Uhr
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