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Abwärts | Mai 2010

Schmetterlingsflug
von Sylvia Seelert

Mit ausgebreiteten Armen stand sie auf dem Brückengeländer und wartete auf die gelben Augen des Nachtzugs. “Heute werde ich es tun“, wisperte sie. “Heute, heute.“ Immer und immer wieder murmelte sie diese Worte, monoton wie ein Mantra.
Die Ärmel ihres ausgebeulten, grauen Pullovers schoben sich ein wenig nach oben und gaben den Blick auf Unterarme frei, in die Landkarten des Schmerzes eingezeichnet waren. Wind kam auf und verfing sich in ihren Haaren. Für einen Augenblick verstummte sie und konzentrierte sich darauf, die Balance zu halten. Doch es gelang ihr nicht, und so kletterte sie schließlich wieder von der Brüstung. Die Lippen zogen sich zu einem Strich zusammen. Die Augen glommen fiebrig in ihren Höhlen.
“Keine Lügen mehr“, flüsterte sie und krallte dabei ihre Finger in das alte Holz der Brücke. Ein Splitter drang in ihren Handballen. Sie zog ihn heraus. “Keine Lügen mehr.“
Die Dämmerung kroch über die Feldwege und saugte gierig jeden Fetzen von Licht in sich auf. In ihrem Gefolge schob sich die Nacht allmählich über den Horizont.
FĂĽr einen Moment riss die Wolkendecke auf und der Vollmond leuchtete auf, in dessen Gesicht sich Krater und Furchen von Jahrtausenden eingegraben hatten. Nur Sekunden dauerte der Augenblick und die Wolken deckten ihn wieder zu.
Grillen sangen in den Gräsern und die Eichen wiegten sich leicht dazu im Abendwind.
Die junge Frau lauschte einem anderen Lied. Jede Faser ihres Körpers war gespannt, die Muskeln zitterten leicht.
Tief in ihr drinnen sang eine dunkle Stimme davon, den Kokon zu verlassen, der sie mit dicken, klebrigen Fäden so fest umspannt hielt, dass keine Luft mehr zum Atmen blieb. Viele Fäden hatte die Zeit gesponnen. Puzzlestücke ihres Lebens wirbelten durch ihren Kopf. Jedes Teil beinhaltete einen Lebensbruch, so dass es sich nicht zu einem Ganzen zusammenschließen wollte. Stattdessen drifteten sie immer wieder auseinander.
Sie dachte daran, in den Augen ihrer Eltern keine perfekte Tochter zu sein. So sehr sie sich bemühte, sie konnte ihnen nichts recht machen. Sie dachte an die fordernden Hände ihres Onkels. Narben hatten sie hinterlassen, die nicht heilen wollten. Sie dachte an den Freund, der sie hintergangen hatte. Er war die Liebe ihres Lebens gewesen. Doch nur sie hatte daran geglaubt. Und schließlich an den Chef, der sie gefeuert hatte. Ich brauche dich, hatte er ihr immer wieder gesagt, und sie hatte alles für ihn gemacht. Finanzkrise, hatte er am Ende bedauernd gemurmelt, und das Blondchen behalten. Wie Glieder einer Kette fädelte sie die Figuren aus der Vergangenheit auf. Und diese Kette hing schwer um ihren Hals, zog sie abwärts ins Nichts.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als in der Ferne ein Licht auftauchte. Es war soweit. Flink kletterte sie auf das Geländer. Ihr Pullover verhakte sich jedoch in einem rostigen Nagel. Sie zerrte an dem Stoff, während sie die immer näher kommenden Lichter des Zuges im Blick behielt. Mit der Kraft einer Verzweifelten zog sie immer heftiger, bis schließlich das Gewebe mit einem leisen Ratschen nachgab und sie über die Brüstung stürzte. Im Fallen noch dachte sie, ’’So war mein Flug nicht geplant...’’

Der Zug ratterte mit beständigem und gleichmütigem tack-tack, tack-tack über die Gleise und entschwand. Der Mond schälte sich Stück um Stück aus den Wolken hervor und berührte die Landschaft mit Silberfingern. Schließlich verharrte sein Gesicht direkt über dem der jungen Frau und sie blickten sich beide an.
Sie hörte einen Kauz rufen und Mäuse im Gebüsch rascheln. Sie sah, wie das Mondlicht die Eichen in schimmerndes Licht tauchte. Ein Schatten stand am Waldsaum, nickte ihr zu und verschwand zwischen Streifen aus Silberlicht.
“Keine Lügen mehr“, wisperte sie schließlich und rappelte mühsam ihren schmerzenden Körper auf, der neben die Gleise gefallen war. Ein Schmetterlingsflügel entfaltete sich ganz zaghaft, während sie humpelnd die Nacht verließ.




Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 09.41 Uhr
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