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Abwärts | Mai 2010

Abgestürzt
von Ingo Pietsch

Mit meinem Freund Christian hatte ich eine Firma gegründet. Nach den ersten harten Jahren, waren wir soweit, dass sich Christian einen Urlaub gönnen konnte.
Flug und Hotels waren schon gebucht, als Susanne, Christians Frau, schwanger wurde.
Christian war ein passionierter Hobbybergsteiger. Für seine Frau wären diese Anstrengungen jedoch zu viel gewesen.
Die Reise in die Vereinigten Staaten war ein großer Wunsch meines Geschäftspartners gewesen, da wollte er sie nicht verschieben und lud mich stattdessen ein.

Susanne verabschiedete sich inniglich am Flughafen von Christian. Mich bedachte sie nur eines flüchtigen Blickes, obwohl wir uns schon ewig kannten. Ich nahm ihr das nicht übel, weil sie eine unglaublich gute Schauspielerin war, mich aber damit nicht unter Druck setzen konnte.
Im Flugzeug erzählte mir Christian, dass er sich schon lange wünschte, Vater zu werden. Aufgrund einer Laune der Natur war es fast unmöglich, dass seine Frau von ihm schwanger geworden war.
Er war so glücklich, dass er mir fast den ganzen Flug über von seinem unfassbaren Glück vorschwärmte. Mir bluteten schon fast die Ohren und ich hörte nur noch Bla-Bla-Bla. Mein Verstand schaltete sich irgendwann ab, und ich nickte ab da an mechanisch in unregelmäßigen Abständen.
Ich wunderte mich, dass ich keine Gewissensbisse hatte, konnte mir nicht erklären, dass ich so teilnahmslos reagierte.

Unser erster Zwischenstopp war New York. Es regnete ohne Unterbrechung, sodass wir von den Sehenswürdigkeiten nur wenig hatten. Wir hasteten vom Empire-State-Building zur Wall-Street, über die Brooklyn-Bridge und machten einen kurzen Abstecher zur Freiheitsstatue.
Am Hafen ließ sich Christian eine gefälschte Rolex andrehen. Er war ja so leichtgläubig. Und das Sprichwort „Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“, passte haargenau zu ihm. Er hatte unsere Firma in kürzester Zeit bekannt gemacht. Und hätte er nicht die größere Summe des Eigenkapitals aufgebracht, wäre ich wahrscheinlich der Chef geworden. So überließ ich ihm die Arbeit, kümmerte mich um die Finanzen und drückte hier und da mal ein Knöpfchen.

Weitere zwei Tage verbrachten wir in Disneyworld Orlando/Florida und anschließend flogen wir nach Salt Lake City/Utah, Hauptstadt der Mormonen.
Übrigens ein schöner, ruhiger Ort mit den gepflegten Tempelanlagen. Sehr sauber und aufgeräumt. Kein Vergleich mit dem hektischen New York.
Am Morgen des nächsten Tages fuhren wir in die Berge.
Da ich bis auf ein paar Stunden in den heimischen Felsen über keinerlei Erfahrungen verfügte, nutzten wir eine Strecke, in der schon Haken steckten. Ich musste also nur ein bisschen klettern und mich einklinken; Christian kletterte parallel neben mir her.
Der Felsen maß vielleicht dreißig, vierzig Meter, aber das reichte mir schon. Hier und da wuchsen ein paar Büsche oder ragten abgestorbene Äste aus dem Massiv.
Auf halber Höhe ging mir die Puste aus.
Ich keuchte vor Anstrengung und der Schweiß lief mir in Bächen über den Körper.
Während ich mich abmühte, nicht wegzurutschen, war Christian völlig entspannt und redete und redete. Die gleiche Leier wie immer. Eigentlich führte er mehr Selbstgespräche, da er dabei die ganze Zeit mit der Wand sprach.
Immerhin hatten der Felsen und ich eines gemeinsam: Wir konnten ihm beide nicht widersprechen.
Ich fragte mich, ob Susanne das alles auch so sehen würde wie Christian. Eigentlich war sie nicht besonders glücklich mit ihm. Aber seit einem halben Jahr sprachen wir nicht mehr miteinander und sie ging mir aus dem Weg.
Ich wurde mit einem Mal wütend. Meine Gedanken lenkten mich vom eigentlichen Klettern ab und ich verlor den Halt.
Voller Panik fing ich an zu schreien. Dabei fiel ich nicht mehr als einen halben Meter. Der letzte Karabiner, in den ich eingeklinkt war, fing meinen Sturz mit solcher Wucht ab, dass ich mich übergeben musste; aber mehr vor Schreck, als vor Schmerz.
Ich schrappte mir das Gesicht an der Felswand blutig, während ich hin- und herbaumelte.
Christian reagierte sofort; er ließ sich auf meine Höhe herab und pendelte zu mir herüber. Das klappte glücklicherweise schon nach dem zweiten Versuch, denn er bekam im letzten Moment meine Hand zu fassen, bevor mein Seil weiter nachgab.
Jetzt hingen wir beide praktisch in der Luft.
Ich hatte fürchterliche Angst. Doch bevor ich sterben würde, musste ich Christian noch beichten.
Susanne und ich hatten eine Affäre. Kurz nachdem wir uns getrennt hatten, wurde sie schwanger und sie wusste nicht von wem.
„Falls ich sterbe, sollst du noch Eins wissen“, presste ich unter Anstrengungen hervor.
Christian sah mir unter Anstrengung in die Augen, während ich mit meinen Füßen Halt suchte: „Ich weiß, dass du Geld vom Firmenkonto abgezweigt hast.“
Ich war total durcheinander. Wie kam er denn darauf? Das Geld hatte ich nie angerührt. Hatte ihm das Susanne erzählt?
Ich weiß nicht mehr, wer losließ, er oder ich. Jedenfalls entfernte er sich von mir. Ich stürzte fast die gesamte Strecke nach unten und riss dabei fast alle Karabiner aus der Wand. Einer der Letzten verhinderte meinen Tod, und ich schmetterte mit voller Gewalt gegen den Felsen, sodass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Ich spürte einen gleißenden Schmerz im Rücken und Sterne tanzten vor meinen Augen. Irgendetwas hielt mich fest, denn ich hing fest verankert in der Schwebe. Langsam schwanden mir die Sinne und damit auch die Furcht. Ich hörte Christian rufen und sah wie in Trance die wunderschöne Landschaft. Der Schmerz schwand, Christian war nicht mehr zu hören, und es wurde dunkel.

Jetzt, ein halbes Jahr später, kann ich froh sein, dass ich noch lebe.
Susanne und Christian haben ihr Wunschkind bekommen; ein Mädchen übrigens. Ein Vaterschaftstest erwies, dass er der richtige Vater ist. Er hat ihr den Seitensprung verziehen und sie sind wieder glücklich miteinander. Die Lüge über meinen angeblichen Diebstahl hatte sie nur erfunden, um damit von ihrem Fehltritt abzulenken.
Sie haben jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen.
Ich bin in einer anderen Firma tätig.
Und ich hatte Glück im Unglück: Mir geht es gesundheitlich zwar gut, aber ich wurde bei dem Absturz von einem alten Ast aufgespießt, der mein Rückenmark durchtrennte. Seitdem kann ich meine Beine nicht mehr bewegen und sitze im Rollstuhl.
Selbstständig Bergsteigen werde ich jedenfalls nicht mehr.

Letzte Aktualisierung: 21.05.2010 - 11.23 Uhr
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