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Abwärts | Mai 2010

Die Sanduhr
von Marika Bergmann

Die Sanduhr

Vorbei. Eddy strich sein dunkles Haar aus dem Gesicht, während er das schwere Tor hinter sich zuzog. Er wĂĽrde jetzt zum Strand gehen. Es war erst drei – noch frĂĽher Nachmittag. Er schlitterte ĂĽber die warmen Steine der Treppe, sein Hemd hing ĂĽber der weiten Leinenhose. In dem kleinen Hafenlokal tummelten sich die Gäste unter einem Fischernetz. Eddy sah die Brandung, ihr Aufschäumen und dachte an das Lachen von Julie. ‚Mon petit moment’ hatte sie ihn genannt. 
‚Moment’, es klang anfangs so sanft, so als sei es nur fĂĽr ihn da – immer dann, wenn sie ihn neckte. Es war auch jetzt da, er hörte sie flĂĽstern. „Moment.“

„Monsieur, nehmen Sie einen Sonnenschirm.“
Eddy erschrak. Sah einen alten, kahlköpfigen Mann. Er wollte weiter. Hörte eine heisere Stimme rufen: „Monsieur! So warten Sie doch! Sie haben doch Zeit.“ Der alte Mann blieb dicht hinter ihm, überholte ihn. Sein ausgestreckter Arm wies auf einen abgelegenen Strand hinter einer Düne.
„Dort stehen meine Liegen.“ Er hob die Stange des Gatters an. „Sie sind der Erste dort, Monsieur. Ruhen Sie sich dort aus!“

Eddy ging auf die Düne zu. Er könnte erst einmal schlafen. Er wollte dem Alten ein paar Francs in die Hand drücken. Der lehnte geschäftig ab, klopfte den Sand von der Liege. Eddy hörte das knirschende Geräusch des Schirmständers. Das Rohr drang tiefer und tiefer in den sandigen Untergrund. Die Schuhe und Hose des Alten hatten die gleiche Farbe wie der Sand. Sein Hemd hatte Löcher. Der ausgeblichene Schirm auch. Er solle nur so lange bleiben, wie er wolle, sagte der alte Mann. Bezahlen könne er später. Er würde auf ihn warten, dort oben an der Treppe.

Eddy hängte sein Hemd unter den Schirm und machte es sich auf der Liege bequem. Das Licht flimmerte vom Meer. Wenn die Luft seine Haut streifte, war sie direkt hinter ihm. Julie ... sie war da, pustete ihm in den Nacken. Er griff immer wieder in den Sand, ließ ihn zwischen seinen Fingern hindurchrieseln, bekam das Gefühl, ins Bodenlose zu gleiten. Er wurde immer schneller, befand sich plötzlich in freiem Fall.

‚Wenn du aufschlägst, bist du tot!’, hatte sein Bruder Philippe damals gesagt. Als sie noch Kinder waren. Er war danach in der Nacht immer wieder aufgeschreckt und am anderen Morgen in einer warmen PfĂĽtze aufgewacht. Das hatte ihm Angst gemacht. Er wollte nicht mehr schlafen. Der Traum kam immer dann, wenn er sehr mĂĽde war. Und er war sehr oft mĂĽde von der Arbeit im den Weinbergen seines Vaters. FĂĽr so was war Eddy nicht gemacht. Immer, wenn er erschöpft die Augen schloss, begann der Sturz. Wie ein Stein fiel er in den Abgrund und wurde jedes Mal wach. Er schlug nie auf. 


Sein Bruder Philippe war ein angesehener Mann. Er hatte Julie geheiratet, die sie seit ihrer Kindheit kannten. Philippe war ein Glückspilz. Anfangs hatte Julie seinen Bruder auf den Geschäftsreisen begleitet. Aber irgendwann wollte sie nicht mehr mit. Eddy war sehr häufig zu Gast bei ihr, er liebte ihr ‚Dolce Vita’. Die langen Abende, an denen sie sich zusammen Geschichten ausdachten. Es waren meist Reisen in den Orient, Julie tanzte verschleiert, wurde als Sklavin verkauft oder war eine Mätresse. Sie spielten Ausschnitte der alten Hollywoodklassiker nach. Liebten es zu erraten, aus welchem Film die Szenen waren. Oder sie inszenierten eine Pokerrunde, mimten finstere Gestalten und wechselten die Rollen. Sie genügten sich. Sie waren sich immer genug – schon als Kinder. Eddy spielte dann meist reale Szenen nach. Es geschah nicht selten, dass er zur Mitte des Monats schon pleite war; wenn er seinen Anteil in Monte Carlo verspielt hatte. Sein Bruder Philippe war immer der Stärkere. Eddy wusste, dass er sich nie mit seinem Bruder messen könnte. Er war nur der kleine Bruder.

Eddy lag unter dem blauen Schirm, sah durch seine geschlossenen Lider einen Schatten. Öffnete die Augen. Ein kleines Mädchen stand vor ihm. Sie hatte dunkles lockiges Haar und lutschte an einem Eis. Ihre Augen hatten das gleiche Azurblau wie die von Julie. Sie drehte das Hölzchen zwischen den Lippen. Zog es hervor und führte es langsam wieder zurück. Es wuchs, war jetzt wieder ein neues Eis mit einem Schokoladenüberzug – unberührt. Erstaunt rieb er sich die Augen. Das Mädchen lachte. Papierfetzen wehten herbei, umhüllten die Schokolade. Sie tat einen Schritt zurück. Noch einen. Die Schritte waren erst wie ein Stolpern, wurden dann immer größer und schneller. Rückwärts lief sie in Richtung des Gatters. Der losgetretene Sand wanderte die Düne hoch. Füllte ihre Spuren.

Schnell richtete sich Eddy auf. Sah auf seine Armbanduhr. Zwölf Uhr. Er klopfte auf das Glas. Der Zeiger bewegte sich. Sie musste zwischendurch stehengeblieben sein.

Um zwölf war er noch auf dem Weg in die Villa gewesen. Sein Bruder Philippe war verreist. Eddy wollte Julie überraschen. Fand sie, lachend. Hörte sie, wie sie ihn bezirzte, den Anderen. Es war nicht ihr Mann. Es war nicht sein Bruder Philippe. Eddy verharrte hinter der Tür. Regungslos, fast ohne zu atmen. Sein Puls pochte in seinem Hals. Er schluckte, nahm den süßen Duft ihres Parfums wahr. Hörte ihr Stöhnen. Hörte den Anderen, wie er sich an ihr rieb. Lautlos wich er zurück. Sie hatten ihn nicht gehört. Er war nie dort gewesen.

Die Sonne stand fast senkrecht über ihm. Der Schweiß brannte in seinen Augen. Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sah noch einmal in die Richtung, in der das kleine Mädchen verschwunden war. Das Kind stand winkend auf dem Hügel:
„Petit moment!“
Er sah zu dem Mädchen. Ihr Winken veränderte sich. Er hielt sich den Kopf. Träumte er noch? Seine Uhr. Jetzt war es fünf vor zwölf. Der Zeiger sprang zurück. Sechs vor zwölf. Er kniff die Augen zusammen und fixierte das Zifferblatt. Der Sekundenzeiger bewegte sich rückwärts. Eddy warf sich in den Sand. Wenn er sich nur heftig hin und herwälzte, dann könnte er den merkwürdigen Traum abschütteln. Es war bestimmt nur ein Traum.

Als er aufsah, stand auf der nun goldglänzenden Düne Julie. Eddy sank auf die Knie. Seine Fäuste bohrten sich in den Sand. Er schrie, begann zu schluchzen und Tränen rannen ihm am Hals hinunter. Er presste die Knöchel seiner Fäuste in den Mund. Wach werden! Er schluckte. Schmeckte. Sah über seine blutende Hand zur Düne hinauf. Wie in Zeitlupe waren seine Bewegungen. Der heiße Sand gab nach. Die Zeit. Hatte ihn keiner gehört? Warum war hier niemand? Julie! Er hatte sie gesehen. Sie war da. Eddy kroch wimmernd im Sand. Julie. Er hatte sie geliebt, die Frau seines Bruders. Warum hatte sie ihm das nur angetan? Ein bitterer Geschmack. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen. Da war kein Halt. Der Sand bewegte sich, umschloss ihn, zog ihn unaufhaltsam in die Tiefe.

Gefangen. Ein Traum. Er musste träumen. Immer tiefer sank er, brauchte nicht mehr zu atmen, wurde immer schneller. Sank abwärts. Sah das frische Rot auf ihren umschlungenen Körpern – auf dem Weiß der Laken. Die Schatten der Fensterläden warfen Gitter in den Raum. Streifen, Schnitte. Das Messer fiel auf den kalten Marmor. Diese Hure. Der Teufel sollte sie holen.

Viele Menschen hatten sich vor der alten Kirche Saint Pierre an der Côté-d'Or versammelt. Am Ende der langen Freitreppe hing eine riesige Sanduhr in einem stählernen Gerüst. Der alte Mann drehte das Rad. Der schwere Glaskörper bewegte sich. Der Sand hinter dem Glas war blutgetränkt. Eddy fiel. Fiel durch den Trichter. Unaufhaltsam abwärts.

Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 09.58 Uhr
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