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Abwärts | Mai 2010

Freier Fall
von Marie Brand

„Das gibt ’ne Party nachher!“ Janine klopfte Mark kräftig auf die Schulter und grinste unverschämt. „Dein hundertster Sprung!“
Mark zuckte etwas zusammen, blickte in die Gesichter seiner Kameraden und auch in die der beiden Kameradinnen, die seit ein paar Monaten in der Mannschaft waren. Er wusste, dass sich alle auf den Sprung freuten und vor allem auf das Bier danach, das den Mut wieder abkühlen sollte und auf seinen Deckel ging. Jubiläum! Immer eine Party wert. Er verzog das Gesicht zu etwas, was als zustimmende Antwort ausgelegt werden konnte.

Miriam beschattete mit der Hand ihre Augen, als sie gen Himmel blickte. Sie wartete inmitten der nicht adrenalinwütigen Frauen und Männer am ausgesuchten Landeplatz der Fallschirmspringer „Freier Fall Ahlen 90 e. V.“. Alle hielten Ausschau nach ihren besseren Hälften - auch hier unten waren sie eine eingeschworene Crew.

Ideale Flugbedingungen hatte der Wetterdienst versprochen. Und diesmal stimmte es auch. Mark ließ seinen Blick nach draußen wandern und sog den klaren Himmel fast in sich auf. Keine Wolke störte das Blau. Er schloss die Augen und ließ das Bild in sich nachwirken. Während die gleichmäßig röhrenden Motoren das Stimmengewirr und die Witze der Mannschaft in den Hintergrund treten ließen, floss in seinem Kopf der blaue Himmel zu zwei Kreisen zusammen, um die sich Brauen, Nase und Mund formten. Wie ein Sonnenkranz legte sich blondes Haar um Miriams Gesicht, das zum Greifen nah schien.

„Na, habt ihr auch anständig Salate und Würstchen bestellt?“ Miriam brauchte sich nicht umzudrehen, um Jochens Stimme zu erkennen. Sie löste trotzdem ihren Blick vom Himmel, wandte den Kopf zu ihm und meinte lächelnd: „Ja, sicher. Was dachtest du denn?“ Ganz leicht spürte sie seine Hand im Rücken.

Miriam! Den zehnten Hochzeitstag hatten sie im letzten Jahr groß gefeiert, die Kameraden nach Hause eingeladen. Thorsten und Ellen, Janine und Jochen und alle anderen Freunde. Sie erzählten ihnen, sie hätten extra dafür gespart. Ein rauschendes Gartenfest bis in den frühen Morgen, das sie sich dank des Lottogewinns leisten konnten, von dem sie nie gesprochen hatten.

Jochen blieb lieber auf der Erde. Nie hatte er Angst um seine Janine, die schon bei der Bundeswehr das Fallschirmspringen gelernt hatte. Meist unterhielt er sich unten und lenkte andere vom Himmel ab. Für das Versprühen seines Charmes hatte er die große Auswahl, denn er und René waren am Boden die einzigen Männer. Miriam hätte sich jetzt gern gegen die Hand gelehnt, die immer noch an ihrem Rücken verweilte.

Getanzt hatten sie auch an ihrem Hochzeitstag, obwohl Mark kein begnadeter Tänzer war. Dagegen war Miriam in Jochens Armen wahrlich wie eine Feder über das Parkett geschwebt. Er hatte sie ab dem sechsten Bier die ganze Nacht im Auge behalten. Über Marks Gesicht zuckte die Erinnerung, und er öffnete wieder die Augen.

„Da! Sie kommen!“ Die Erste hatte nun das Flugzeug entdeckt. Innerlich seufzend machte Miriam einen Schritt nach vorn, mit dem sie sich von der Hand löste, und suchte wieder den Himmel ab.

Der Pilot zählte bereits den Countdown an. Dann würden sie in ihrer ausgelosten Reihenfolge springen. Mark war heute der letzte. „... drei, zwei, eins“, tönte es aus dem Lautsprecher. „Eins, zwei, los!“, rief Thorsten, der alle einzeln rausschickte, bis er selbst an der Reihe war. „Eins, zwei, los!“, hörte Mark seine eigene Stimme, ein eingefahrenes Ritual. Dann ließ er sich fallen.

„Sie sind draußen!“ Ein paar Punkte konnte Miriam erkennen. Für einen Moment hielt sie den Atem an. Würde es klappen? Was, wenn es nicht klappte? Früher hatte sie immer ein Stoßgebet auf den Lippen, wenn Mark sprang. Heute versagte ihre innere Stimme.

Mark breitete die Arme aus, die Luft blähte seinen Anzug, zischte an den Ohren vorbei. Andere Geräusche waren nicht zu hören. So abgeschirmt von der Welt kostete Mark den Moment einer völligen Einsamkeit aus – in einem Element, das er liebte. Wie er Miriam geliebt hatte. Sie würde eine ganz andere Einsamkeit hinterlassen. All die Monate hatte er sie beobachtet. Schnell begriffen, dass sie sich von ihm entfernte, auch wenn sie es vor ihm zu verbergen suchte. Der Schmerz zerrte mehr an ihm als die Luft, durch die er sich fallen ließ.

Die fröhliche Stimmung am Boden setzte immer einen kurzen Moment aus, wenn die Mannschaft sprang. Die Gruppe entspannte sich erst wieder, wenn sie alle Schirme zählen konnte. Fünfzehn mussten es sein. Eins, zwei, drei waren schon geöffnet, und die Springer schwebten jetzt viel langsamer Richtung Boden. Miriam spürte Jochens Blicke, während sie weiterhin mit den anderen die bunten Punkte zählte.

Er war sich nicht sicher, ob Miriam wirklich gehen würde. Jochen hatte Charme, das war klar. Aber kein Geld. Die Sicherheit, die Mark ihr bieten konnte, gab es bei Jochen nicht. Vielleicht würde sie bleiben - und sich immer nur heimlich mit Jochen treffen, während sie in Marks Bett immer öfter Kopfschmerzen vortäuschte. Glaubte sie wirklich, dass er das nicht merkte? Dass er den Geruch eines anderen Mannes an ihrer Haut nicht erkannte?

Vierzehn Schirme. Einer fehlte noch, Mark hatte den letzten Startplatz ausgelost, das wusste sie. Würde die hauchdünne Seide halten? Würden die Seile halten? Miriam konnte den Blick nicht lösen.

Ohne Miriam konnte er nicht sein. Mark schob sich keine weißen Schäfchenwolken in den Blick. Sie war das erste Mädchen, das er mit sechzehn begehrt hatte, sie wollte er ganz und nicht nur halb. Schon fiel er an den anderen vorbei, die wie Marionetten an ihrer Seide hingen. Er begann mit beiden Händen an seinen Schnallen zu zerren, die ihn an diesem Rucksack mit dem albernen bunten Schirm festhielten.

Ein Aufschrei ging durch die Menge, die sah, wie sich ein Päckchen vom letzten Mann löste. Der Schirm – er hatte ihn weggeworfen! Marks Schirm mit den rotweißen Streifen fehlte!
„Oh Gott!“ Für einen Moment erfasste Miriam Entsetzen, und sie stürzte vor, wie um ihn aufzufangen. Dann blieb sie abrupt stehen.
Er hatte ihr die Entscheidung abgenommen. Mark hatte ihr die Entscheidung abgenommen.
Nein, nicht die Entscheidung. Nur die möglichen Konsequenzen. Niemand würde jetzt noch den Fallschirm untersuchen. Sie könnte die Millionen und Jochen behalten.
Eine willkommene Hand legte sich schützend vor ihre Augen, als Mark aufprallte.


Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 09.34 Uhr
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