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Abwärts | Mai 2010

Der Abenteurer
von Angela Schlenker

Herr Arelnur hatte den ersten Preis gewonnen. Jedes Jahr veranstaltete die Regierung des Wasserplaneten Wameer ein Preisausschreiben, dessen Hauptgewinn jeweils eine Abenteuerreise zu nebensächlichen, bislang unerforschten Planeten war. Dieses Mal stand die Erde auf dem Programm. Zur Vorbereitung hatte man den Planeten belauscht und einige Erkenntnisse erworben. Eingehüllt war der Zielplanet in Spuren von Intelligenz, die aber offensichtlich nur im beschränkten Maße eingesetzt wurde, weswegen der Planet auch nicht Mitglied der Galaktischen Union war.
Grundsätzlich waren die glücklichen Gewinner gehalten, intelligenten oder auch nur halbintelligenten Eingeborenen möglichst nicht unter die Augen zu treten, dennoch wurden sie zu ihrer Sicherheit mit einem automatischen Übersetzer ausgerüstet. Entgegen der Vorgabe zur Kontaktmeidung war nämlich jedes Mal die Beobachtung möglicher Zivilisationen einer der Höhepunkte des Abenteuers. Um einerseits unbeobachtet das Raumschiff landen zu können, andererseits gleichzeitig in die Nähe des diesmal zu erkundenden Gemeinwesen zu kommen, fiel die Wahl des aktuellen Landeplatzes auf das dicht besiedelte Europa und dort speziell auf die weniger belebte Gipfelregion der deutschen Alpen.
Das kleine Raumschiff also landete, ein Türsegment glitt zur Seite und Herr Arelnur stieg aus. Er sagte dabei keineswegs, dies sei nur ein kleiner Schritt für ihn, aber ein großer für alle Wameerianer, sondern er sagte „Meine Güte!“, als sich das Schneebrett löste, auf welches er trat. Genau genommen dachte der telepathisch begabte Herr Arelnur dies lediglich, dennoch übersetzte sein Automat es postwendend in ein blechern klingendes Deutsch.
Herr Arelnur war von krakenähnlicher Gestalt, etwa hühnergroß und verfügte über zehn Extremitäten, die wahlweise als Beine oder Arme eingesetzt werden konnten. Eingehüllt war sein Körper in einen stützenden, hautfarbenen Lebenserhaltungsanzug, rosa in seinem Fall. Für eine Notlage, wie sie nun so vorzeitig auf dem mit ihm bergab rutschenden Schneebrett eingetreten war, hielt der Raumanzug ein Seil bereit, welches Herr Arelnur sogleich abschoss. Woraufhin ein harter Ruck seinen Sturz stoppte, während das Schneebrett zur Lawine anwachsend ins Tal donnerte. Mit seinem Fernglas beobachtete Herr Arelnur, wie diese, unten angekommen, einige offensichtlich künstliche Bauwerke von der Bildfläche wischte.
Sein ein wenig gewaltsamer Auftritt war nicht mehr zu ändern und Herr Arelnur schritt bergab. Der erste Bewohner dieses Planeten, auf den er traf, war ein mickriges, kleines Pflänzchen. Da es nicht der unbedingt zu meidenden Spezies angehörte, beugte er sich leichten Herzens zu ihm nieder und dachte: „Hallo! Wie geht’s?“
Sein Automat übersetze, allerdings war in diesem Fall Telepathie der erfolgreichere Weg.
„Nicht gut!“, jammerte das Edelweiß, froh, seinen Kummer jemandem mitteilen zu können, „sie verdrängen uns in die unwirtlichsten Gegenden, mit unserer Art geht es bergab!“
Herr Arelnur dachte, dass ihm dies sehr leid täte, und ging weiter. Er wanderte alsbald durch einen Fichtenwald und bewunderte die Bäume. So schön sie auch waren, verstellten sie doch die Aussicht auf die weite Tallandschaft, darum war Herr Arelnur sehr erbaut, als er ein riesiges, künstliches Gestell erblickte und es als Aussichtsplattform identifizierte. Magisch zog sie an und mit einiger Mühe erklomm er die für einen wie ihn nicht vorgesehenen Stufen. Oben angekommen trat er vor, die Augen auf die herrliche Landschaft gerichtet, und rutschte sofort die noch winterlich vereiste Skisprungschanze hinab.
„Meine Güte!“
Leider, das Notseil war schon verschossen und er flog mit Schwung über den Schanzentisch. Zu seinem Glück hatte die Evolution ihn mit Häuten zwischen den Extremitäten ausgestattet, so segelte er, einer fliegenden Untertasse nicht unähnlich, zu Tal. Hier landete er mitten zwischen denjenigen, die zu meiden ihm aufgetragen war. Flugs benutzte er die nächste Deckung, die sich ihm bot. Dass diese ein Auto war, wie sollte Herr Arelnur es wissen? Es kam, wie es kommen musste, jemand warf alle Türen zu, klemmte sich hinters Steuer und fuhr los. Der eingestiegene Mann war jung, er hatte ein Date und fuhr in seiner Eile nicht eben vorsichtig talwärts. Herr Arelnur wurde hin und her geschleudert. Er stemmte sich hoch und blickte aus dem Fenster.
„Meine Güte!“, dachte er, während er alle seine zehn Extremitäten in die Polster krallte. Gewiss, er war hohe Geschwindigkeiten durchaus gewohnt, jedoch nicht in einem so primitiven Fahrzeug, welches aus jeglicher Kurve getragen zu werden drohte.
Der Automat übersetzte blechern und Herrn Arelnurs Chauffeur fuhr erschrocken herum. Sein Blick fiel auf einen rosa Kraken mit einem panischen Ausdruck im Gesicht. Das letzte Bier muss schlecht gewesen sein, dachte der Mensch, aber niemand übersetzte. Das war auch nicht von Belang, denn weder Tempo noch Straße verziehen die geringste Unaufmerksamkeit, schon raste das Auto eine Geröllhalde hinab in ein Flussbett. Während der Mann mühevoll aus seinem havarierten Gefährt kletterte, sah er den Kraken ins reißende Flüsslein entfliehen.
Hier traf Herr Arelnur auf Forellen, die ebenfalls über einen immer enger werdenden Lebensraum klagten.
Wegen des in diesem Abschnitt jedoch sehr mächtigen Gefälles, wurde Herr Arelnur des tosenden Wassers schnell überdrüssig. Er kam zu dem Schluss, sich doch besser wieder einem der einheimischen Fahrzeuge anzuvertrauen. Mitten in einer Ortschaft kroch er aus dem Wasser. Hier schaffte er es unbemerkt in ein Taxi, in das gerade eine Dame mit ihrem kleinen Mädchen einstieg. Weil Herr Arelnur glaubte, ein Wackeldackel gäbe ihm die nötige Deckung, nahm er auf der Hutablage gewissermaßen den Platz der häkelverdeckten Klorolle ein.
„Wohin soll’s denn gehen?“, fragte der Taxifahrer.
„Ich möchte jetzt ans Meer“, dachte Herr Arelnur unvorsichtig.
Natürlich übersetzte sein Automat und ein neuer Chauffeur fuhr aufgeschreckt herum.
„Wie bitte?“
Wenn es der Mutter auch seltsam vorkam, aber beide Erwachsenen schrieben dem kleinen Mädchen die Äußerung zu.
„Wir nehmen den Autozug nach Hamburg, bitte zum Münchner Ostbahnhof!“, präzisierte deshalb die Mutter.
„Na ja, Hamburg liegt doch fast am Meer“, lachte der Fahrer und fuhr los.
Der telepathische Herr Arelnur erhaschte einige aufschlussreiche gedankliche Vorstellungen und entschloss sich, den Autozug ebenfalls zu benutzen. Die Fahrt durch die Nacht gestaltete sich interessant. In dem als Versteck dienenden Auto fand Herr Arelnur einen Atlas, der ihn völlig gefangen nahm. Seine Reiseagentur hatte ihm über die Oberflächenbeschaffenheit des Planeten nur eine grobe Skizze geliefert, nun erkannte er Genaueres, er konnte aufgrund der Färbung Festländer sowie Gewässer unterscheiden, ebenso wie es ihm gelang, Höhen- und Tiefenangaben herzuleiten.
Am nächsten Morgen hatte der Zug keine Einfahrt und stand auf der Elbbrücke. Diesen Anblick erkannte Herr Arelnur aus den Gedankenbildern der Menschenfrau wieder und beschloss, hier auszusteigen. Der breite Fluss würde ihn direkt ins Meer befördern. Herr Arelnur hatte gelernt, das Fenster zu öffnen und zwängte sich hinaus. Er hatte Glück.
„Meine Güte!“
Flach ins Gleisbett gepresst entkam er mit knapper Not dem über ihm hinweg donnernden Gegenzug. Bei seinem anschließenden schwebenden Sprung von der Brücke wäre er fast in den Schornstein eines Schiffes gestürzt. Er verfehlte ihn nur knapp und klammerte sich fest. Da die Fahrtrichtung stimmte, blieb er sitzen und genoss die Aussicht. In Cuxhaven leerte sich der Ausflugsdampfer und Herr Arelnur richtete es ein, in einer Tasche von Bord getragen zu werden.
Der folgende Ausblick auf das Meer war katastrophal. Zwar hatte der Himmel die erwartete Weite, doch das Meer war knochentrocken.
„Meine Güte! Das nennen die Meer?!“
Glücklicherweise weilte an dem kalten Frühlingstag niemand auf dem Deich, der den rosa Kraken hätte sprechen hören können. Herr Arelnur stapfte auf das unbekannte Watt hinaus. Sein Höhenmesser zeigte an, bislang war es immer bergab gegangen. Aber enttäuscht, wie er augenblicklich war, wollte er nun die tiefste Tiefe dieses Planeten ausloten, da zumindest müsste doch das Meer zu finden sein. Der Atlas hatte ihn gelehrt, wo diese Stelle zu suchen sei. Sie war weit weg und Herr Arelnur rief sein Raumschiff an, es möge landen, ihn dorthin zu bringen.
Die Piloten wunderten sich sehr, warum ihr Abenteurer so bitter über einen Mangel an Meer klagte, vom Orbit konnten sie es jedenfalls in wahren Mengen sehen. Momentan freilich hatten sie Probleme mit Weltraummüll und erwiderten, er möchte etwas Geduld aufbringen. Als sie endlich landeten, war nicht allein Herr Arelnur, sondern auch das Meer anwesend.
„Trocken, häh?“
Man brachte den Abenteurer zu der von ihm geforderten Stelle. Im Wasser fühlte sich Herr Arelnur sehr wohl und tauchte ab. In der Tiefsee traf Herr Arelnur auf Geschöpfe, die nicht über schwindenden Lebensraum jammerten, dagegen aber sehr am Essen interessiert waren. Er floh. Leider zu tief. Denn als er bemerkte, wie tief hinab es ging, war es auch mit seiner Lebensuhr bergab gegangen, es war zu spät.
Indes war das nicht schlimm. Beileibe nicht jeder Preisträger kehrte von seinem Abenteuer zurück. Herr Arelnur war diesbezüglich wirklich nicht der erste.

Letzte Aktualisierung: 17.05.2010 - 14.39 Uhr
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