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Abwärts | Mai 2010

Welch ein Tag
von Hauke Reetz

„Was für ein Albtraum“ dachte sich Tom, „Grillmeister für 32.645 Menschen“. Hier war alles vertreten: Der Asi, die Familie, der Banker, der Student und die Krankenschwester.
Samstag, 15.30 Uhr an der Castroper Straße in Bochum. Der letzte Bundesligaspieltag, VfL Bochum gegen Hannover 96, es ging für beide Mannschaften um die Wurst, nämlich um den direkten Klassenerhalt.

Die Stimmung war gespannt wie ein Drahtseil. „Hey Bratmaxe, 3 x Currywurst extra scharf, für echte Männer“ brüllte ihm ein jugendliches Ekelpaket in Nobelklamotten entgegen.
„Und wenn es schnell geht, macht nix“. Der Typ grinste ihn frech an.

„Was man für Geld nicht alles macht“ dachte sich Tom, der Medizinstudent, machte drei mal Currywurst „für richtige Männer“ und stellte sich vor, dass das halbwüchsige Ekel eines Tages mal sein Patient sein würde. Wenigstens würde es während des Spiels am Grillstand ruhiger sein.

Anstoß! Der Ball wurde bis zum eigenen Sechzehner gespielt, bloß keinen Ballverlust, es ging schließlich um einiges: Klassenerhalt, Prestige, Geld. Einige Spieler hatten nur Verträge für die erste Liga…

Ausgerechnet heute musste er fĂĽr einen erkrankten Kollegen einspringen. Nun durfte er an seinem eigentlich freien Tag die Chaoten vom Hauptbahnhof zum Stadion fahren. Busfahrer war auch nicht mehr so einfach wie frĂĽher. Na ja, wenigstens meckerten die Leute beim Shuttle-Verkehr nicht dauernd ĂĽber die UnpĂĽnktlichkeit der Busse. Andererseits sollte er jetzt eigentlich mit seiner Frau und den Kindern im Zoo sein.

„Noch zwei Fahrten“ sagte er sich, „die letzten Nachzügler aus den verspäteten Zügen“. Auf einer Plakatwand las er den Rückrundenslogan des VfL:“ Wer immer oben steht, ist nur zu feige für den Abstiegskampf“. Er lachte leise auf.
Feigheit konnte man dem VfL in dieser Beziehung schon seit langem nicht unterstellen.

18 Minute: Alles in allem ein grottenschlechter Kick. Not gegen Elend, war ja nicht anders zu erwarten. Ein Spiel ohne Torchancen, ein unentschieden würde keinem reichen…

In Block 23, wo sich nur der harte Kern aufhielt, heizte Stefan seine Jungs an. „Sauft nicht so viel, wir haben noch einiges vor heute. Den Gipsgesichtern aus Hannover zeigen wir mal, wie Ruhrpott geht“ schwor er die Bochumer Ultras ein. „Warten wir erst mal das Spiel ab, aber danach Aufmarsch mit alle Mann“.

Von den wenigen „Normalos“, die nur wegen des Spiels hier waren, hätte keiner gedacht, das Stefan, der Typ mit den Lederhandschuhen in der Gesäßtasche und dem Lonsdale-Shirt, morgen wieder als Kassierer in der Bank stehen würde, falls man ihn heute im Verlauf der dritten Halbzeit nicht fest nahm.

37. Minute: Elfmeter für Hannover: Irgendwie hatte sich ein 96er in den gegnerischen Sechzehner verirrt und wurde umgerannt. Meier legte sich den Ball zurecht, nahm Anlauf und setzte den bislang einzigen Akzent des Spiels. 1:0 für die Gäste aus Niedersachsen.

„Das gibt noch Ärger“ meinte Marc zu Sandra, seiner Kollegin. Marc versah nun schon seit acht Jahren seinen Dienst in der Hundertschaft der Bereitschaftspolizei in Wuppertal.

Grundsätzlich hatte er nichts gegen Fußballeinsätze, aber dieser hier versprach Provokation, Gewalt und Überstunden. Und gerade heute wollte er zeitig und vor allem gesund nach Hause. Dienst am Geburtstag der eigenen Frau, und dann auch noch am Wochenende, dafür konnte man nun wirklich kein Verständnis erwarten. „Na ja, mussten die anderen halt ohne ihn feiern“.

Halbzeit………………..

32.645 Menschen sangen. 24.000 fĂĽr den VfL, der Rest fĂĽr die 96er.
Niklas war das nicht ganz geheuer, war er doch das erste Mal im Stadion. Natürlich war sein Vater dabei, er selbst war ja erst zehn Jahre alt. Sie hatten Sitzplätze, sonst hätte er ja nichts gesehen. Alles war neu und aufregend, fast besser als Weihnachten, nur ohne Geschenke. Er hatte Hunger, aber sein Vater wollte sich einfach nicht am Grillstand anstellen, wo wegen der Halbzeitpause eine lange Schlange stand. Er saß wie festgeklebt auf seinem Platz. Dafür würden sie nach dem Spiel zu McDonalds gehen, hatte er Niklas versprochen.

47.Minute: Balitsch auf Jensen, der mit einem genialen Steilpass auf Cherundolo, der schießt und…

Stille! Außer dem Rasenmäher, mit dem Oppa Werner seinen stets bilderbuchmäßig gepflegten Rasen schnitt. Ausgerechnet jetzt kein Empfang. Das hatte er nun davon, dass er nicht mit der Zeit ging und sich endlich mal ein neues Radio zulegte. Aber bis auf kleine Mucken funktionierte das alte Radio ja noch. Er hatte es vor 25 Jahren zusammen mit dem Schrebergarten übernommen, und schon damals war es ziemlich alt.

Damals war er noch als Bergmann unter Tage gefahren, mit dem Fahrstuhl abwärts zum Flöz. Und nun wollte er als gefühlt ältester VfL-Fan nichts mehr, als das Spiel im Radio bei Liga live zu verfolgen. „Ausgerechnet jetzt lässt mich das Gerät im Stich“, dachte er, als er bemerkte, dass er mit dem Rasenmäher über das Kabel gefahren war und dadurch einen Kurzschluss verursacht hatte. Wenn er sich beeilte, konnte er das in Kürze wieder hin bekommen. „Andererseits“,, dachte er sich „ich könnte auch zu Dieter rüber gehen und ein schönes Export trinken, während wir zusammen die Schlussphase des Spiels verfolgen“.

58. Minute: Der VfL lag noch immer 0:1 zurück, aber wenigstens hatten die Fans auch schon einen Torschuss auf das Tor der Niedersachsen gesehen…

Nur eine Frau in Bluse und Minirock, die vermutlich selbst nicht genau wusste, was sie hier sollte, stand bei Tom am Grillstand und fragte ihn, ob er auch Scampi-Spieße hätte.
„Oh Mann, was für ein Tag“, dachte Tom.

63. Minute: Dabrowski auf Sestak, der lässt Balitsch aussteigen, zieht ab, und… der Pfosten rettet für Fromlowitz, Hannover im Glück!

In Block 23 verteilten sich Stefans Jungs in mehreren kleinen Gruppen zu 3-4 Mann. Spätestens auf dem Weg zum Bahnhof würde es Action geben.

68. Minute: Eckball für den VfL, der Ball kommt auf den Elfer, Sestak steigt unbedrängt hoch, Kopfball, der Ball fliegt in den rechten Winkel, Tor, Tor, Tor!

Marc bemerkte die Rotation in Block 23, die Bewegung entging seinen aufmerksamen Augen nicht. „Warm up“, dachte er, „gleich geht`s rund“.

73. Minute: Foul Jensen an Maltritz, der wäre frei vorm Tor gewesen. Was macht der Schiedsrichter. Er nestelt an seiner Brusttasche und… zeigt Rot!Rot für Jensen, der VfL jetzt in der Überzahl.

„Noch`n Bier, Werner?“ fragte Dieter. „Auf jeden Fall“ antwortete Werner.
Selten schmeckte ein Bier so gut wie jetzt unmittelbar nach dem Ausgleich in diesem Endspiel der Saison.
„Weißt Du noch, damals Fritz Walter“ sagte Werner, „ … die Sanitäter haben mir sofort eine Invasion gelegt.“. Beide lachten.

84. Minute: Schlaudraff auf Epalle, DoppelpaĂź, jetzt mĂĽsste er schieĂźen, Forsell im letzten Moment dazwischen!

Niklas war wie gebannt von der Atmosphäre im Stadion. Er verstand natürlich nicht, dass es um viele Millionen von Euros ging. Für ihn war es einfach etwas Besonderes, weil sein Vater ihn mit ins Stadion genommen hatte. Nur er und sein Vater., ohne seine kleineren Geschwister. Es war einfach toll. Ganz anders als im Waldstadion, wenn er nach dem Spiel seiner D-Jugend noch das Spiel der 1. Mannschaft ansah. Hier war es viel aufregender: Es wurde gesungen, aufgeschrieen und es gab sogar Schimpfwörter, die er noch nicht kannte.

86. Minute: Konter Hannover, Forssell auf Pinto der steil auf auf Hanke, Direktabnahme… Zentimeter am linken Pfosten vorbei. Heerwagen wäre chancenlos gewesen!

Kohle nachlegen wĂĽrde sich nicht mehr lohnen, er hatte ohnehin nur noch 50 WĂĽrstchen. Und die wĂĽrde er auch mit der restlichen Glut halb gar bekommen. Das musste reichen, die meisten Fans merkten wegen des Alkohols sowieso nicht mehr viel.

91. Minute: Spiel auf ein Tor Jetzt oder nie! Maltritz lässt Pinto stehen, Doppelpaß mit Freier, der auf Sestak, der zieht mit links ab, Schlaudraff fälscht unhaltbar zum 2:1 ab. Was für ein Spiel! Das ist der Klassenerhalt für den VfL Bochum! Das Stadion tobt.

Die enttäuschten Hannoveraner Fans strömen eilig und fassungslos aus dem Stadion zu den Bussen. Als er die traurigen und teilweise wütenden Fans auf seinen Bus zu kommen sieht, wird ihm mulmig. Nur keinen falschen Spruch, niemanden provozieren, bloß die Schicht rum kriegen. Am besten nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, so wie diese drei Affen die man manchmal sah. Das wäre sicher das Beste, um unnötigen Stress mit den Fans zu vermeiden.

Marc und Sandra begleiten mit ihrer Gruppe einige Fans, die nach Ärger aussehen. Besonders der mit den Lederhandschuhen und dem Lonsdale-Shirt fällt durch seine aggressive Art auf.

Niklas und sein Vater sind noch im Stadion. Die VfL –Fans singen und feiern den Klassenerhalt. Auch sein Vater singt mit. Nur Niklas wird langsam ungeduldig.
„Papa, Mc Donalds“, mahnt er seinen Vater.

„So ein Tag, so wunderschön wie heute“ singen Dieter und Werner im Kleingarten. Mittlerweile sitzen sie zu siebt auf Dieters Terrasse und sind schon bei der zweiten Kiste Export.

Die Sonne schien, es war ein wirklich schöner Tag.

Nur für Hannover 96 wurde es ganz dunkel, denn es ging erstmals seit 1976 abwärts in die zweite Liga. Welch ein Tag!

Letzte Aktualisierung: 21.05.2010 - 15.10 Uhr
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