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Abwärts | Mai 2010

Fremdkörper im Raum
von Jochen Ruscheweyh

„Wo ist das Kaninchen jetzt?“, fragte Janssen in die Runde. Noch bevor jemand antworten konnte, drückte er den Zylinder so weit zusammen, dass nicht mal mehr ein Kanarienvogel darin Unterschlupf gefunden hätte. Mir gegenüber saßen Marion, Claudia und Daniela, die darauf bestand Daisy genannt zu werden, weiter hinten auf meiner Seite Frau Schäfer, deren Vornamen niemand im Laden kannte, Fiebich, der Mann für Alles sowie die beiden Reinigungskräfte und fünf weitere Mitarbeiterinnen aus dem Lager.
„Und hier ist Meister Lampe!“, rief Janssen. Er griff in seine Manteltasche, zog ein zotteliges Stück weißen Stoff heraus, hielt diesen für den Bruchteil einer Sekunde in die Luft und schob ihn dann wieder hastig in seine Tasche zurück.
„Alles nur eine Illusion! Eine Frage der Fingerfertigkeit.“
Fiebich und die Frau ohne Vornamen klatschten vehementer als alle anderen, während Janssen sich ausgiebig verbeugte und schließlich mit einem großen gepunkteten Tuch die Stirn abtupfte.
Jemand stellte die Musik wieder an, ein Schlager, Roland Kaiser.
Ich lehnte mich zurück, trank von meinem Bier und dachte über meinen Job nach. In einer von Janssens Filialen zu arbeiten, stellte keine unüberwindbare intellektuelle Herausforderung dar, das hatte ich festgestellt: Ware auspacken, ein bisschen Kasse machen, das Schaufenster nach Anweisung dekorieren, keine Verantwortung, kein Stress und trotzdem soviel auf dem Konto, dass es zum Überleben reichte. Wer hier arbeiten durfte, konnte sich eigentlich glücklich schätzen.
Marion schwankte bedenklich, als sie um den Tisch kam und sich auf den freien Stuhl links neben mir fallen ließ. Ich roch Sekt und Zwiebelmett, als sie ihren Arm auf meine Schulter legte und flüsterte:
„Das geht nicht mehr lange so weiter mit Daisy und ihrer Arbeitseinstellung. Wenn ich Janssen wäre, hätte ich die schon längst an die frische Luft gesetzt.“
Ich trank einen weiteren Schluck von meinem Bier. Dann fragte ich:
„Wie lange bist du jetzt bei Janssen?“
Sie nahm meine Flasche und begann, dass Etikett abzulösen.
„Vierzehneinhalb Jahre. Zu lange, um noch mal irgendwo anders neu zu starten und mir eine gute Position zu erarbeiten. Auch wenn mir der Laden hier so was von auf den ... , ach, vergiss´ es.“
Ich nickte. Christina, eine der beiden Reinigungskräfte, und Fiebich begannen neben dem improvisierten kalten Buffet einen engen Paartanz, der nicht einmal ansatzweise zur Musik passte.
Marion versuchte, mit ihrem Stuhl näher an mich heranzurücken. Dabei stieß sie mit ihrem Knie gegen das Tischbein und fluchte leise.
Ein Blitz überstrahlte die schummrige Beleuchtung für einen Moment, als Daisy Claudia mit ihrem Mobiltelefon fotografierte.
„Bist du eigentlich verheiratet?“, fragte Marion.
„Nee, wieso willst du das wissen?“
„Nur so, eine Frage halt.“
Sie rollte das Etikett zu einer kleinen Kugel zusammen und schnippte es unter den Tisch.
„Du bist ein feiner Kerl.“ , sagte sie. „Ein echt feiner Kerl, jemand zum Pferdestehlen, viel zu gut zum Regale einräumen im Laden hier. Was ist dein Problem?“
Ich lachte.
„Nein, ich mein´s ernst. Ein Typ wie du der gehört nicht hier her. Das hier ist das, was man im Volksmund das untere Ende der Fahnenstange nennt.“
Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse einen Rest Bier vom Mund und reichte mir die bis auf die Reste des Klebers transparente Flasche, die jetzt keinerlei Aufschluss mehr über Marke und Inhalt zuließ.
„Vielleicht gefällt´s mir hier.“
Ein weiterer Blitz erhellte den Raum. Diesmal hielt Claudia Daisy in Portraitform fest.
Marion warf ihren Kopf mit gespielter Langeweile in den Nacken. Dann fragte sie: „Hattest du schon mal was mit einer Frau aus dem Einzelhandel?“
Am Ende des Raumes zogen Fiebich und Christina weiter ihre Kreise; immer noch gegen den Takt.
„Warum willst du das wissen?“
Marion strich mit ihren künstlichen Nägeln über meinen Handrücken.
„Würde dir gut tun. Wir sind nämlich ziemlich erfahren, was das Leben angeht.“
Sie nahm mir die Flasche ab und trank noch einmal davon.
„Aber keine Angst, du bist sicher vor mir ... “, fügte sie hinzu, hob ihre Hand und deutete auf ihren Ring, während ihre Augen etwas anderes zu sagen schienen.
Dann drehte Janssen die Musik herunter. Christina und Fiebich glitten noch einen Moment lang als Fremdkörper durch den schlagerlosen Raum und nahmen dann hastig wie bei der Reise nach Jerusalem auf den nächsten freien Stühlen Platz.
Ohne dass er um Ruhe gebeten hätte, verstummten alle Anwesenden.
„Manch einer von ihnen wird den Augenblick vielleicht unpassend finden ...“, begann Janssen, „aber wenn wir es einmal von der anderen Seite betrachten: Kann es überhaupt einen passenden Moment für unangenehme Nachrichten geben?“
Er machte eine Pause, die wohl die Bedeutung seiner Ansprache unterstreichen sollte, auf mich aber eher unsicher wirkte. Dann fuhr er mit weniger fester Stimme fort.
„Die aktuelle Wirtschaftslage und Veränderungen in unserem Kundensegment zwingen mich leider, betriebsbedingte Anpassungen vorzunehmen. Aus diesem Grund möchte ich, dass sie sich nun alle von Marion verabschieden, da sie morgen ihre Papiere in meinem Büro abholen wird. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit. Und nun genug der trüben Gedanken, feiern sie bitte weiter.“
Marion hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihr Gleichgewicht zu finden, als sie sich von ihrem Stuhl erhob.
„Das können sie nicht machen, Janssen!“, zischte sie.
Janssen war sichtlich bemüht, geschäftig zu wirken, richtete seine Zauberutensilien und tupfte sich zwischendurch immer wieder den Schweiß von der Stirn. Seine Oberlippe zitterte leicht, ebenso seine Hände. Sein beinahe verlegen anmutendes Kramen - die stumme Antwort auf ihren Einwand.
„Schauen sie mich wenigstens an, wenn ich mit ihnen rede!“, setzte Marion nach.
Janssen wandte kurz den Kopf zur Seite, fokussierte aber mich anstelle von Marion.
Wie der rotierende Linsenträger eines Leuchtturms in einer windstillen Nacht wanderte ihr Blick über die Anwesenden und verharrte schließlich bei Daisy, die sich anscheinend nicht auf ein Augenduell einlassen wollte und einfach auf den Boden guckte.
Der erste, der seine Stimme wieder fand, war Roland Kaiser, den Fiebich behutsam über die betretene Stille blendete. Wie eine Pawlowsche Hündin zog es Christina zurück zu ihrer Bühne am Buffet.
„Aber es gibt doch so etwas wie Kündigungsschutz ..., ich bin doch schon so lange ... “, sagte Marion, die jetzt statt des tanzenden Paares die Stelle des Fremdkörpers eingenommen hatte, immer noch stehend, aber ihre Worte schienen vom aufbrausenden Schwall der wieder erstarkten Gespräche und der rumbaresken Beschreibung schneeweißer Strände weggespült zu werden. Sie senkte ihren Blick, als säße dort jemand unter ihrem Tisch, der ihr zustimmen könnte. Schließlich nötigte ich sie sanft aber bestimmt, wieder Platz zu nehmen.
Wir saßen eine Weile in lautloser Umarmung. Von Zeit zu Zeit wischte ich ihr mit einem Taschentuch schwarze Mascara-Tränen von der Wange. Ich gab ihr die Zeit, die sie benötigte. Dann erklärte ich ihr behutsam, dass wir Flaschen in ihrem Spind finden würden, wenn wir jetzt nachschauen würden und Fehler in ihren Kassenabrechnungen; dass sie mit ihren Attacken gegen Daisy den Betriebsfrieden störte und dass ihre Kommunikation mit den Kunden inakzeptabel, Janssen aber nicht nur ein guter Kerl, sondern auch ein Chef der alten Schule wäre, ihre Entschuldigung morgen selbstverständlich akzeptieren würde, wenn sie Einsicht zeigte und einen neuen Vertrag bei einer Zeitarbeitsfirma unterschrieb, selbstverständlich mit dem selben Aufgabengebiet hier bei Janssen, aber einem Drittel weniger Gehalt. Ich fügte noch an, dass sie eine fantastische Arbeitskraft wäre und nur eine kleine Neujustierung benötigte, aber dann sicherlich noch viele Jahre erfolgreich in dieser Branche tätig sein könnte.
Mittlerweile war ich Profi genug, um zu wissen, dass sie das Angebot, dass meine Firma ihr unterbreitete, annehmen würde, aber auch um ihren Vorschlag bezüglich eines gemeinsamen Taxis abzulehnen. Nach allem, was ich ihr angetan hatte, konnte es sich bei dieser Einladung nur um eine Falle oder eine extreme Form von Masochismus handeln.
Aus der Flut von Berechnungen und Papieren, mit der wir Janssen überschwemmt hatten, war schließlich der Kaufmann Janssen aufgetaucht, der sich mehr für Gewinne vor Steuern interessierte als für sein leblos auf dem Grund treibendes Alter Ego, das vor vielen Jahren mal einen Gewerkschaftsausweis besessen hatte.
Das hatte mir Gelegenheit gegeben, den Zylinder zusammenzudrücken und bald würde auch für Janssen selbst, Zaubervorführungen und Betriebsfeste kein Platz mehr darin sein. Keine Fremdkörper mehr, aber auch kein Raum.


Jochen Ruscheweyh

Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 20.06 Uhr
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