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Abwärts | Mai 2010

Senkrechte Linien
von Susanne Krawinkel

„Schneller lesen!“, treibt Frau Machatz die SchĂŒler der 7a an.
Unhörbar fĂŒr Lehrerin und MitschĂŒler seufzt Mia und hebt unauffĂ€llig den Kopf. Sie blinzelt zur Uhr. Zwanzig nach elf, noch fĂŒnf Minuten bis zur Pause. Zum GlĂŒck wird Frau Machatz kaum Zeit bleiben, mit ihr zu schimpfen. Allerdings bringt das Stundenende andere Schikanen.
Papier raschelt, Seiten werden umgeblĂ€ttert. Ängstlich schweift Mias Blick ĂŒber ihre MitschĂŒler, die ihre Köpfe tief ĂŒber die eng bedruckten TextblĂ€tter beugen und die Wörter einsaugen. Frau Machatz fixiert Mia und mahnt: „Das gilt insbesondere fĂŒr dich, Mia!“
Mia zuckt zusammen und senkt rasch den Kopf. Schadenfroh kichert ihre einst beste Freundin Cora. Trotz des tiefen Stiches, der ihr ins Herz fÀhrt, versucht Mia, sich wieder auf den Text zu konzentrieren.
Seit drei Deutschstunden blĂ€ut Frau Machatz ihnen die neue Lesemethode ein, mit der man angeblich viermal schneller lesen kann. Sie ruft sich die Anweisungen der Lehrerin zurĂŒck ins GedĂ€chtnis: Lest die Wörter nicht mehr einzeln, sondern erfasst ganze Wortgruppen auf einmal. Nehmt nicht mehr jede Zeile von links nach rechts, sondern geht den ganzen Absatz im Zick-Zack-Schwung von links oben nach rechts unten durch. Ein Stift als Lesehilfe macht es euch einfacher.
Mia befolgt die Anleitung genau. Ihr FĂŒller fĂ€hrt zitternd in Schlangenlinien ĂŒber die Textabschnitte, sie greift mit ihren Augen fĂŒnf Worte auf einmal. Aber die Buchstaben fliegen wild durcheinander. Sie ergeben keinen Sinn.
Bevor sie ĂŒberhaupt das Ende des ersten Absatzes erreicht hat, drĂŒckt die Lehrerin auf die Stoppuhr und verkĂŒndet: „So, die Zeit ist um. Wer hat den Text ganz geschafft?“
Zweiundzwanzig HÀnde gehen in die Höhe. Eine bleibt unten.
Frau Machatz schĂŒttelt missbilligend den Kopf: „Mia, was ist los mit dir? Du bist schon wieder die Letzte!“
In der Klasse ist es mucksmĂ€uschenstill. Alle warten auf eine Antwort. Aber Mia bleibt stumm. Sie fixiert ihre Tischplatte, um nicht in die hĂ€misch grinsenden Gesichter ihrer MitschĂŒler zu schauen, und wĂŒnscht sich, dass der Boden vor ihr aufgeht und sie verschluckt.
Der Pausengong lÀutet einen anderen Untergang ein.
„Kommst du mit raus?“, fragt Cora spitz und sieht auf sie hinab.
Mia schĂŒttelt stumm den Kopf.
„Die kannst du echt vergessen. 
 Die kann ja nicht mal mehr lesen“, raunen die MĂ€dchen, mit denen Mia frĂŒher gemeinsam ĂŒber den Schulhof gerast ist.
„Mit dir ist wirklich nichts mehr los, du Loserin!“, zischt Cora und zieht mit den einstigen Freundinnen ab.
Mia nimmt den Text in die Hand und vergrĂ€bt das Gesicht im Geschriebenen, damit niemand die TrĂ€nen sieht, die ihr wie eine FontĂ€ne in die Augen schießen.
Sie gehört nicht mehr zur Clique. Schrittweise wurde sie ausgeschlossen. Die Treffen nach der Schule finden jetzt ohne sie statt.
Fußgetrappel dringt vom Pausenhof herein. Sie kann ihre FĂŒĂŸe seit dem Unfall vor zwei Monaten nicht einmal mehr auf den Trittbrettern des Rollstuhls anheben. Ihre Beine sind gebrochen.
FĂŒnf Wochen lag sie im Krankenhaus und kann mit den anderen nicht mehr mithalten. Von der einst beliebten, ĂŒberdurchschnittlich guten SchĂŒlerin, die dem arroganten Streber Finn in fast allen FĂ€chern Paroli bieten konnte, ist sie zum Schlusslicht der Klasse abgestĂŒrzt, das von den anderen nicht einmal Hausaufgaben abschreiben darf.
Mia wischt mit dem HandrĂŒcken ĂŒber ihre Wangen und zieht die Nase hoch. Sie versucht, die quĂ€lenden Gedanken zu verdrĂ€ngen und widmet sich wieder dem bedruckten Papier. BedĂ€chtig fĂ€hrt sie mit dem Zeigefinger ĂŒber das Blatt. Sie unterstreicht Zeile fĂŒr Zeile. Sie genießt es, dass sich die Buchstaben zu Wörtern zusammensetzen, aus denen ganze SĂ€tze und schließlich Bilder in ihrem Kopf entstehen. Warum zerstört Frau Machatz durch dieses blöde Schnelllesen die Magie, durch die aus schwarzen Zeichen auf weißem Papier bunte und lebhafte Szenen erwachen?
„So wirst du nie schneller. Du darfst nicht jedes Wort lesen“, schreckt sie eine helle Stimme aus ihren Gedanken. Ein Junge kommt an ihr Pult, setzt sich neben sie und nimmt ihr den Text aus der Hand.
Schockiert schaut sie ihn an. Ausgerechnet der hat ihre DemĂŒtigung mitgekriegt! Und quatscht sie noch an, obwohl er sonst mit niemandem außerhalb des Unterrichts spricht!
„Dein Gehirn kann sich aus wenigen SchlĂŒsselwörtern den Sinn selbst zusammensetzen. Es muss nicht jede PrĂ€position oder Konjunktion verarbeiten.“
„Lass mich in Ruhe!“ Mias Stimme zischt, und sie kneift ihre Augen zusammen. „Verschwinde! Geh‘ zu den anderen“, befiehlt sie ihm.
Finn, der Besserwisser, den niemand in der Sportstunde in sein Team wĂ€hlt, ist der Letzte, den sie gebrauchen kann. Aber er bleibt hartnĂ€ckig: „Es ist gar nicht schwer, diese Technik zu beherrschen. Ich zeig‘s dir.“
„Lieber bleibe ich die Schlechteste, bevor ich mir von dir was erklĂ€ren lasse! Hau einfach ab!“
Doch Finn schnappt sich ihren FĂŒller und fĂ€hrt in diagonalen Schleifen ĂŒber das Blatt.
„Siehst du, so musst du es machen. Dann verdoppelst du locker deine Lesegeschwindigkeit“, verkĂŒndet er.
„Ich will nicht schnell lesen!“, fĂ€hrt Mia aus der Haut. „Ich will den Text genießen, jedes Wort in mich aufnehmen. Nicht durch die Seiten rasen! Und du bringst mich erst recht nicht dazu!“
„Aber wenn du schneller bist, kannst du viel mehr BĂŒcher lesen.“
Mia ist sprachlos. Daran hat sie noch gar nicht gedacht.
Finn nutzt ihr Schweigen und legt nach: „Die Bilder in deinen Gedanken laufen viel rascher ab. Wie ein Film. Kopfkino sozusagen. Und wenn du Zeitlupe haben willst, liest du einfach langsamer. Du hast viel mehr Möglichkeiten, aus denen du wĂ€hlen kannst. Liest du nur langsam, hast du eben nur Slomo.“
Mia schwankt zwischen ansteigender Wut und zunehmender Neugierde. Finns Argumente bringen ihre ablehnende Haltung ins Wanken. Ist er etwa doch nicht so ĂŒberheblich, wie er sonst tut?
Finn zieht wenige Zentimeter von den RĂ€ndern entfernt zwei senkrechte Striche ĂŒber den Text.
„Das ist noch eine Technik, mit der du schneller wirst. Die senkrechten Linien.“
Er schiebt ihr das Blatt herĂŒber. Mia starrt auf die schwarzen Vertikalen. Die Zeilen des Textes fĂŒgen sich wie Sprossen dazwischen.
Ihr stockt der Atem.
Eine Leiter.
Ihr Herz rast, ihre HandflÀchen werden feucht.
Die Leiter.
Ihre Augen jagen ĂŒber die Sprossen. Hoch und runter. Die Wörter verschwimmen, tĂŒrmen sich zu einer grauen Wand auf.
„Du musst nur das zwischen den Linien erfassen“, kommt Finns dĂŒnnes Stimmchen aus der Ferne.
Mia schließt die Augen und hört wieder das Knacken unter ihren FĂŒĂŸen. Sie greift nach den Holmen, kann sich nicht mehr festhalten, rutscht ab. Sie fĂ€llt, immer schneller, immer tiefer. Bis sie aufschlĂ€gt. Sie kriegt keine Luft mehr. Sie will sich aufrichten, damit der Sauerstoff schneller in die Lungen fließt. Aber ihr Körper gehorcht ihr nicht. Stechende Schmerzen nageln sie am Boden fest. Hilflos blickt sie am Stamm des Apfelbaums nach oben, an dem die Leiter mit den durchgebrochenen Querhölzern lehnt.
Heftig krallen sich Finger in ihre Oberarme und schĂŒtteln sie. Panik klingt aus Finns Stimme: „Was hast du? Sag‘ doch etwas!“
Mia schnauft, saugt Luft ein. Dann öffnet sie die Augen. Soll sie Finn das wahre Ausmaß ihres Unfalls erzĂ€hlen? Bisher hat sie es allen verschwiegen.
„Ich bin aus drei Metern gefallen“, flĂŒstert sie. „Genau auf die Holzkiste mit den Äpfeln. Dabei sind nicht nur die Beine, sondern auch zwei Wirbel im RĂŒcken gebrochen.“
Sie schluckt die TrĂ€nen tapfer herunter. „Ich werde vielleicht gelĂ€hmt bleiben.“
Finn erstarrt fĂŒr einen Moment, steht dann wortlos auf und schiebt den Rollstuhl, den sie durch ihre ruckartigen Bewegungen nach hinten befördert hat, zurĂŒck an den Tisch. Er setzt sich wieder, nimmt das Blatt mit den senkrechten Linien und legt es vor sie hin.
„Du kannst zwar nicht laufen, aber deinen Kopf kannst du noch einsetzen.“
Mia ist schockiert, dass Finn kein Mitleid fĂŒr ihr Schicksal zeigt. Stattdessen nimmt er energisch die nĂ€chsten Seiten, zieht zwei schwarze Senkrechte ĂŒber den Text und reicht ihr die BlĂ€tter.
„Also, streng dich an“, fordert er und drĂŒckt ihr den FĂŒller in die Finger.
Überrascht blickt sie den am meist gehassten Jungen der Klasse an. Fast versagt ihre Stimme, als sie fragt: „Warum tust du das?“
Sein blasses Gesicht fÀrbt sich rötlich, und er dreht sich weg.
„Weil ich gerne wieder Konkurrenz im Unterricht hĂ€tte“, stammelt er leise.
Mia findet keine Antwort auf sein GestÀndnis. Peinliches Schweigen breitet sich aus, wÀhrend ihr bewusst wird, dass sie den permanenten Schlagabtausch in Mathe und Deutsch ebenso vermisst.
„Jetzt mach‘ schon“, drĂ€ngt er.
Mia kneift die Augen zusammen, um den TrÀnenschleier wegzublinzeln. Sie konzentriert sich auf den Text, fÀhrt bedÀchtig mit dem Stift die Zeilen abwÀrts. Anfangs tanzen die Buchstaben wild durcheinander, aber nach einer halben Seite formen sich sinnhafte Wörter. Gegen Ende des nÀchsten Blattes dringen Satzfetzen in ihr Gehirn, sodass sie das Tempo, in dem sie die Leiter heruntersteigt, erhöht. Bilder bauen sich auf, laufen wie ein Film ab. Gierig schlÀgt sie die Seiten um, frisst den Text in sich hinein.
Der Gong kĂŒndigt das Ende der Pause an und lĂ€utet den letzten Absatz fĂŒr Mia ein. Als sie fertig gelesen hat, erklĂ€rt sie Finn entschlossen: „Die nĂ€chste Matheschlacht gewinne ich!“


© Susanne Krawinkel

Letzte Aktualisierung: 27.05.2010 - 09.43 Uhr
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