Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Zielgerade | Juni 2010
Traumfänger
von Barbara Hennermann

Nächte beginnen mit dem Abend. Der Abend ist bei Philipp keine beliebte Tageszeit, denn er entzieht ihm die Freuden des Tages: mit Bauklötzen meterhohe Türme bauen, im Sand matschen, Dreirad fahren, Freunde treffen und was es sonst noch so gibt.
Philipps Mama versucht, dies durch andere Verlockungen auszugleichen wie beispielsweise Wasserschlacht in der Badewanne veranstalten oder schön kuschelig eine Geschichte vorlesen. Philipp genießt das sichtlich. Doch jede Geschichte findet ihr Ende und was dann wartet, ist schrecklich: die Einsamkeit des Schläfers in seinem Bett!
Wer ist schon gerne einsam? Philipp jedenfalls nicht. Sein Adlerauge durchforstet die Dunkelheit im Kinderzimmer. Niemand da? Wirklich niemand da? Knistert da nicht etwas? Plötzlich wächst ein Schatten in der Ecke, sperrt den Rachen auf – schreiend flüchtet Philipp aus dem Bett. Das ist nicht die Gesellschaft, die er wollte!
„In meinem Zimmer sitzt ein Krokodil! Es will mich fressen!“ Die Mama erkennt: die Panik ist echt, das Kind fürchtet sich bis in die Knochen. Sie eilt mit ihm ins Kinderzimmer, Licht an – kein Krokodil zu sehen. „Philipp, du hast schlecht geträumt, da ist nichts!“ Schluchzen, Anklammern, Kopfschütteln. Philipp weiß genau, da war das Krokodil, schließlich hat er es gesehen! Mama ist müde, sie möchte jetzt auch ihre Ruhe haben. Seufzend setzt sie sich neben Philipps Bett, hält seine Hand. Während sie fast einschläft, durchsuchen Philipps Adleraugen wieder das Terrain. Ob das böse Tier wiederkommt? Offenbar nicht, wenn Mama da ist. Beruhigt schläft er nach einer Stunde ein. Mama spürt ihr Kreuz …
Am nächsten Abend will er schon von vornherein nicht alleine bleiben. „Noch ein Nachtlied, noch ein Geschichtchen, bitte Mama!“ Der Stuhl neben seinem Bett wird zur festen Einrichtung, Mamas Kreuzschmerzen auch …

Psychologischer Rat tut Not. Zum Glück ist die Literatur reichhaltig.
Mama schafft ein Nachlicht an für´s Kinderzimmer. Das Krokodil verzieht sich, doch nun beginnen andere Schatten zu tanzen. Alle sind unfreundlich und vertreiben Philipp aus dem Bett. Im hellen Wohnzimmer ist er sicher. Soll er aber nicht sein …
Mama holt sich den Stuhl. Jetzt schläft er auch mit dem Nachlicht ein. Mama nimmt sich vor, morgen ein ABC – Pflaster zu kaufen gegen ihre Kreuzschmerzen …
Im schlauen Buch steht, man solle vor dem Einschlafen mit dem Kinde zusammen das Zimmer genau durchsuchen, um ihm begreiflich zu machen, dass da nichts Schlimmes sei. Philipp nimmt diese Maßnahme mit Humor auf, weiß er doch längst aus Erfahrung, dass da nie etwas ist, solange Mama dabei ist! Aber er ist kein Spielverderber, denn Mama soll auch eine Freude haben. Und so sucht er eifrig mit ihr in allen Ecken des Kinderzimmers nach den Ungeheuern. Bestätigt ihr strahlend, dass da absolut nichts zu finden sei.
Pädagogisch und psychologisch gut versorgt steigt er ins Bett, die Nachtlampe bleibt an, Mama geht mit vielen Gutenachtküsschen – aus allen Ecken steigen die Schatten und treiben Philipp aus dem Bett. Rückführung, denn Mama ist schon nahe am Nervenzusammenbruch. Die Tür bleibt nun auch noch einen Spalt offen, damit er die vertrauten Geräusche in der Wohnung hört. Selbstverständlich verzichten die Erwachsenen darauf, den Fernseher einzuschalten, um seinen Schlaf nicht zu stören. Schade eigentlich, es wäre eine gute Sendung über die Angst gekommen …
Philipp empfindet es als eigenartig, wie still es in der Wohnung ist. Was, wenn das Krokodil diesmal Mama im Wohnzimmer gefressen hat? Schreiend hastet er aus dem Bett, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Mama holt sich den gewohnten Stuhl …

Es wird immer klarer, dass Hilfe von außen nicht wirksam ist. Nur wenn Philipp seine eigenen Kräfte mobilisiert, wird er einschlafen können. Hilfe zur Selbsthilfe, Kräfte wecken und stärken! Mama beginnt, selbst nachzudenken an den vielen Abenden, die sie halb schlafend und mit krummen Knochen an Philipps Bett verbringt. Was kennt er, was mag er, was beruhigt ihn?

Sie hat gelesen, Schokolade beruhigt. Sicher stand das in keiner Zeitung beim Zahnarzt, aber egal. Es geht ja nur darum, den Kreislauf zu unterbrechen, in den sie beide da geraten sind!
„Philipp, ich weiß nicht, ob du dafür schon groß genug bist? Ich hätte einen Zauberspruch für dich. Einen doppelten. Meinst du, du kommst damit zurecht?“ Natürlich tut er das, er ist doch schon groß, fast fünf! „Okay, Philipp. Hier ist eine Tafel Zauberschokolade. Sie sieht fast genauso aus wie die, die du sonst auch gerne isst. Aber hier auf der Seite hat sie ein paar kleine Zeichen, siehst du sie?“ Er sieht sie und ist beeindruckt. „So, Philipp, und jetzt pass auf. Hier habe ich noch eine Flasche mit Zauberwasser, riech mal dran!“ Philipp schnuppert. Hm, riecht gut, irgendwie nach Blumen oder so. „Jetzt kommt der Zauber, Philipp, gut aufpassen! Du musst das nämlich ganz alleine machen.“
Philipp spitzt die Ohren, er macht sehr gerne etwas alleine, was ihm neu ist! „Von der Schokolade musst du ein kleines Stück abbrechen, drauf spucken und es unter die Zunge schieben. Auf keinen Fall zerbeißen, hörst du?“ Er nickt, das kann er sich merken. „So, von dem Zauberwasser gebe ich dir ein bisschen auf diesen Wattebausch. Nur so viel, dass du die Feuchtigkeit spürst. Den musst du dann ganz genau auf dein Herz legen. Kannst du das alleine?“ Selbstverständlich kann er das, wieso sollte er nicht …
„Das ist prima, Philipp. Aber du musst dazu im Kopf einen Zauberspruch sagen, nämlich: wildes Tier geh von hier. Merkst du dir das?“ Wildes Tier geh von hier – logisch merkt er sich das. „Das Blöde ist, Philipp, das wirkt nur, wenn du´s alleine machst. Heute bleibe ich aber lieber noch da, oder?“ Philipp schwankt. Er möchte das schon gerne ausprobieren, aber wenn dann doch die … Besser, Mama bleibt da. Aber im Stillen übt er, legt die Schokolade unter die Zunge, den Wattebausch auf sein Herzchen, schläft nach fünf Minuten tief und fest. Heute braucht Mama keinen Stuhl mehr.

Am nächsten Abend stehen die Zaubermittel schon bereit. Philipp hat es eiliger als sonst, ins Bett zu kommen. Er möchte den Zauber ausprobieren, das hat ihn schon den ganzen Tag beschäftigt. Ob er es alleine kann? Die Gutenachtgeschichte, viele Gutenachtküsschen, das Gutenachtliedchen – „Philipp, soll ich dir vielleicht noch eine ganz kleine Geschichte erzählen?“ Mama kann sich offenbar nicht trennen von ihm!
Philipp gähnt herzhaft. Mama versteht, winkt, verschwindet.
Philipp ist ein großer Junge, ein Medizinmann, ein Zauberer, genau wie in der Geschichte, die Mama vorhin erzählt hat!
Schokolade unter die Zunge, Wattebausch anfeuchten – wupps, da ging einiges daneben, aber macht nichts! – aufs Herz legen – wildes Tier geh von hier…..Ruhe. Sie haben es kapiert, die Monster. Er ist zu stark für sie, keines wagt sich hervor! Zufrieden lächelnd segelt er in´s Traumland hinüber.

Er hört nicht mehr, wie Mama zehn Minuten später leise ins Kinderzimmer spitzt und aufatmend ihr geschontes Kreuz reibt.

Letzte Aktualisierung: 20.06.2010 - 10.13 Uhr
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