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Zielgerade | Juni 2010

Die Zielgerade –
von Ruth Genegel

Die Zielgerade ist kein Strich, auf dem man laufen kann. Höchstens ist sie eine Linie, auf der man sowieso läuft, aber ohne zu sehen, dass der Weg auf oder neben ihr entlang führt. Dass man damit das letzte Stück meint, das jemand für die Erreichung seines Ziels zurücklegen muss, weil es sich nicht umgehen lässt, es als Verbindung zu begreifen, die auf das Ziel direkt zu-läuft, mithin ein letzter Kilometer oder ein paar Meter, auf denen man das Ziel schon sieht und weiss, denn abschätzen kann, wie viel noch fehlt, weil dort, wo man man das Ziel erreicht auch das Ende jener Strecke ist, die man absolviert hat, charakterisiert die Zielgeraden als die Form der Unüberwindlichkeit, die mit Notwendigkeit auftritt.
Das hätte mich wenig beunruhigt, wenn ich gewusst hätte, dass ihre Länge und damit die Dauer, die man auf ihr fortschreitet, variabel sind. Denn so wie ich zu den Menschen gehöre, die ihre Ziele bereits genauestens vorher-zusehen und abzuschätzen glauben, so gewiss war ich mir der Tatsache, ich könnte das Ziel schneller als andere zu erreichen schaffen. Dabei bestärkt sah ich mich durch den Entschluss, es zu wollen und die Gewissheit, für je-des Hindernis gewappnet zu sein, das mir auf dem Weg zum Ziel begegnen könnte. Dass ich plötzlich wusste, dass ich mich endlich auf der Zielgeraden befand, die ein letztes Stück Anstrengung ausmachen würden, so wie ich alle meine Vorsätze in Bezug auf das Ziel im Hinblick auf die anstehende Vollendung des Weges wiederholt erinnerte und den Rest meiner körper-lichen und geistigen Kräfte aktivierte, mit denen ich auf den letzten Metern voranschritt, dem Ziel entgegen, war eindeutig dem Umstand zu verdan-ken, in dem ich das Ziel auf einmal klar vor Augen sah, sowie ich plötzlich auch den Rest der Entfernung abzuschätzen lernte, der mich vom Ziel noch trennte. Aber es gab immer Menschen, die ihr Ziel nie erreicht hatten. Wenn man indes schon etwas sieht, was auf das Ziel hindeutet, sei es doch un-möglich, es zu verfehlen. Der Gedanke daran, ich könnte mit meiner Absicht, das Ziel zu erreichen, auch scheitern, hatte nie verhindert, mich weiter darauf zuschreiten zu sehen, sondern meinen Vorsatz angestachelt, es noch und noch zu versuchen und dabei geschickter als andere vorzu-gehen. Deshalb war die Zielgerade auch ein beunruhigender Zustand, der sich mit der Unsicherheit um das Ziel verband, war Herausforderung zu-gleich und motiviert davon, ich zeige keine Schwäche, die mein Ziel in weitere Ferne rücken würde und die Erreichung des Zustands, von dem ich mir soviel versprach, in Gefahr brächte. Aber man hatte meine Fehler gezählt; und als ich auf der Zielgeraden lief fielen sie mir auch wieder ein. Dadurch hatte ich Zeit verloren, die meine Gegner für sich nutzen würden. Denn jedes Ziel sehe sich auch durch den möglichen Umstand bedroht, von anderen schneller erreicht zu werden, die dadurch zu Gegnern geworden waren. Aber ich lief und lief, schaute mich nicht um und erhöhte die Ge-schwindigkeit, zügelte sie zugleich, dosierte meinen Atem und wusste um meine Kraftreserven, die ich nur zur Not aktivieren würde, um auf der Zielgeraden dem Ziel entgegen zu laufen. Die Zielgerade war auf diese Weise mein Partner geworden.
Nur dass es sich ausgerechnet so quer stellen würde, als ich schon auf der Zielgeraden war - damit hatte ich nicht gerechnet. Denn als das Ziel immer näher kam und ich diesmal meiner Gewissheit darum, ich würde das Ziel alsbald wirklich erreichen nachgeben durfte, hatte ich das plötzliche Ge-fühl, ich käme mit Taktik und Ausdauer nicht mehr weiter, weil das Ziel etwas anderes von mir verlangte und sich solange quer stellte, denn auch von seiner sicheren Position verschwand, auf der es für mich vorhersehbar geworden war, bis ich darauf eingehen würde, es zu bedienen. Dadurch war es auf einmal in weite Ferne gerückt war und bedrohte mich damit, es entziehe sich mir ganz, wenn ich das Geheimnis nicht lüfte, für das sich das Ziel jetzt verstellt hatte. Als verlange man auf der Zielgeraden von mir ein-en Strategiewechsel und beklage, was mir zur Gewonheit geworden war, weil ich mit den herkömmlichen Eigenschaften, die ich durchhielt, meiner Ausdauer und der kraftvollen Art, nicht weiter käme, denn so wie gewohnt endlos auf der gleichen Zielgeraden laufen müsste, als liefe ich auf der Stel-le. Was das Ziel von mir wollte, war auf der Zielgeraden indes schlecht ab-zuschätzen. Da ich meinen Bewegungsrythmus nicht aufgeben wollte und mich vom Ziel nicht abbringen liess, fühlte ich mich zugleich herausge-fordert, es nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem auf der Zielgera-den, meinem Weg, zu bleiben - wenngleich versuchte ich zu fühlen, be-merkte nur wenig, aber hinzu gekommen war die Angst, das Ziel täusche mich und auf der Zielgeraden gebe es nicht nur mehr ein Hindernis zu überwinden, sondern verschliesse sich darauf an einer x-beliebigen Stelle der Weg zum Ziel, obwohl ich es schon sah. In diesem Stadium versuchte ich alles : ich meinte , meinen Stil verändern zu müssen, indem ich ver-schiedene neue Formen ausprobierte, wechselnde, in denen mein Laufen automatisch ein anderes Gepräge erhielt, oder mit dem Tempo zu spielen begann, es anzuvisieren, das Ziel gänzlich zu vergessen oder genauestens, während ich lief, immer wieder von neuen anzupeilen versuchte, und meinte es so langsam verstehen zu lernen. Einmal hatte ich das Gefühl, es versperre sich mir nicht mehr, ein anderes Mal, dass es sich mir erneut ähnlich einem Hindernis in den Weg stelle, und nur selten, ich liefe auf der Zielgeraden auch wirklich und in kurzer Zeit ins Ziel ein, was die Erfüllung meiner Wünsche war. In diesem Spiel war das Ziel zwar nicht weiter weg gerückt, unddoch hatte ich mich auf der Zielgeraden eindeutig erschöpft, als liefe ich im Kreis, nur ohne zu ahnen, worum es dem Ziel eigentlich ginge. Und die Zielgerade, mein Freund, die nur den Untergrund bildete, auf dem ich lief, einem Fantom gleich, aber konstant vorhanden, hatte sich wenig entgegenkommend verhalten und war nicht einen Schritt zur Seite gewichen. Am Ende würde die Zielgerade auf diese Weise nicht mehr von meiner Seite weichen und nehme ich ihre Eigenschaften an. Denn so wenig unausweichlich sie ja geworden war, so wenig war auch ich mir unaus-weichlich geworden, waren wir miteinander verwachsen und tronte das Ziel, wenn ich es mir von weiten besah, auf seiner hohen Position, als schelte es mich dafür, dass ich von der Zielgeraden nicht lassen konnte, die mich zu ihm brächte.

Letzte Aktualisierung: 13.06.2010 - 23.43 Uhr
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