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Zielgerade | Juni 2010

Die Eiche (Trash)
von Helga Rougui

"Wenn du dich schon nicht zum Pinkeln hinsetzt, dann ziel wenigstens gerade!!"

Diese Hexe! Ihre Worte klangen ihm in den Ohren, während er die Hose herunterließ und sich auf die Klobrille setzte. In alles redete sie ihm hinein, sogar in die Betätigung seiner intimsten Körperfunktionen. Mit ihrem messerscharfen Blick konnte sie chirurgisch genau sein ereignisarmes Leben sezieren, ihr entging nichts, alle vielleicht heimlich erdachten Nischen und vorsichtig geplanten Verstecke wurden umgehend gnadenlos grell ausgeleuchtet und ins allwissende Scheinwerferlicht getaucht. Ihr entging nichts, und er war ohnmächtig.

Bis auf die Skatrunde mit zwei Kumpeln von früher, die er noch von der Ausbildung her kannte und die sie nie hatte näher kennenlernen wollen. Kartenspieler und Säufer. Diese Runde hatte er mit Klauen und Zähnen verteidigt in den sich dahinschleppenden Jahren ihrer ehelichen Verbindung, und er verteidigte sie noch und immer wieder von neuem und inzwischen mit diebischer Freude, war sie doch der Hexe ein Dorn im blutunterlaufenen Auge.

Wenn sie herausfände, daß er eine andere traf, und zwar nicht, um Skat zu spielen, dann sähe er seine Kinder nicht mal mehr von weitem und wenn überhaupt nur noch von hinten, und bei einer Scheidung würde sie ihm selbst die Unterwäsche wegnehmen.

…


Sie sahen sich nicht oft, aber wenn, dann war es jedesmal ein Fest.

Zu diesem hatte sie extra neue veilchenblaue Spitzenunterwäsche gekauft, die Pradatasche lag achtlos hingeworfen auf dem Beifahrersitz ihres Porsche, mit ihren roten Highheels drückte sie das Gaspedal kräftig durch, mißachtete komplett die Geschwindigkeitsbegrenzung im Tunnel und schnitt einen BMW, der versuchte, sie zu überholen. Anfänger! Sie schoß wie auf Champagners Flügeln dahin, die Ausfahrt kam, sie ging elegant in die Kurve und bremste unten an der Landstraße an der Ampel, die auf Rot stand.
Rot wie ihre Manolos.
Rot wie Feuer.
Rot wie Blut.
Sie schüttelte den Kopf.

Es dunkelte bereits. Der Wald erstreckte sich düstern beiderseits der Straße, sie bog nach links ab und gleich wäre sie da, das lauschige Zimmer in dem verschwiegenen Gasthaus war bereit, die schweren Vorhänge zugezogen, das Bett aufgeschlagen, wärmende Glut im Kamin – und mit des Geliebten Bild vor Augen gab sie noch einmal Gas und beschleunigte den Wagen in dieser letzten sich weit schwingend dahinziehenden Kurve, die sie – aus ihr herausgetragen mit aberwitziger Geschwindigkeit – zu einer Zielgeraden machte, die ihren Endpunkt an einer mehrhundertjährigen Eiche fand. Diese hatte Äonen gleichmütig vor sich hin wachsend ohne Zwischenfälle überstanden, aber nun, als der Porsche sich in einen glühenden Ball aus Flammen, Leidenschaft und brennendem Öl verwandelte, der jede Hoffnung für die Insassin wie auch jeden einzelnen Knochen ihrer selbst dahinschmelzen ließ, fing der uralte Baum nach und nach, dann aber immer gründlicher Feuer, gleichsam unfreiwillig am fremden Schicksal mitleidend.

Als die Feuerwehr kam, brannten beide lichterloh.

Eine Obduktion bei der Frau, hätte sie durchgeführt werden können, hätte ergeben, daß sie wegen eines malignen Tumors in der Lunge nur noch drei Monate zu leben gehabt hätte.
Die Eiche hatte keinen Tumor und hätte das Vorbeiziehen weiterer Jahrhunderte noch gerne miterlebt.

…


Als er vom Klo kam, schoß die Hexe aus der Küche hervor und keifte: "Und im übrigen, heute wird das nichts mit deiner Skatrunde im finsteren Walde, ich muß nachher dringend zu meiner Mutter und mit ihr was besprechen und einer muß ja bei den Kindern bleiben. Gleich wird gegessen, am besten rufst du jetzt noch vorher an und sagst ab. Was ihr überhaupt an diesem alten versifften Kasten da mitten in der Wildnis findet…?"
Er wollte schon zu einer Antwort ansetzen, überlegte es sich aber anders und klappte den Mund wieder zu. Es hatte ja doch keinen Zweck. Mußten sie ihr Treffen halt wieder einmal verschieben.
Er wählte die Nummer des Waldhotels, aber keiner nahm ab.
Die Rezeption war anscheinend unbesetzt?
Wo konnten die nur alle sein?

Da rief auch schon die Hexe zum Abendessen, die Kinder trampelten sich gegenseitig unsanft anrempelnd die Treppe herunter und liefen sich lautstark streitend herbei und

"Nun seid doch mal leise, gleich fangen die Nachrichten an, man versteht ja hier sein eigenes Wort nicht…"

Während die erste Meldung über den Bildschirm flimmerte, begann er seine Suppe zu löffeln.
Glühendheiß.
Ihm traten die Tränen in die Augen.

Letzte Aktualisierung: 11.06.2010 - 14.01 Uhr
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