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Zielgerade | Juni 2010

Jugendsprache
von Gerd Schmidinger

Nun sitzt er da und wartet. Nach zwei Hearings und zig informellen Gesprächen wartet er auf die definitive Zusage. Eigentlich hat er alles richtig gemacht. Eigentlich steht es sowieso schon fest, daß er die Stelle bekommt. Oder doch nicht?
August hasst Unsicherheit. Er möchte am liebsten schon den Vertrag vor sich liegen haben, seine Unterschrift, die des Rektors und des Dekans, dann könnte nichts mehr passieren, dann würde die hohe, krächzende Stimme in seinem Hinterkopf für einige wundervolle Tage verschwinden, um nach und nach wieder an Gewalt zu gewinnen und ihm beständig zuzuraunen: ‚Tu es, August, mach was, du musst es besser machen, du vor allen anderen!’
Doch ein paar Tage lang würde sie verstummen, die Stimme, von der er befürchtet, daß es die seiner Mutter ist, die Befürchtung ist umso schmerzvoller, da August Freud gelesen hat, den muss man kennen, wenn man an der Uni Karriere machen will, selbst als Sprachwissenschaftler.
Bis heute ist August das Lieblingskind seiner Mutter, jedenfalls sagt sie ihm das. Kein Wunder, er war ja auch immer der Brave, der, der die guten Noten nach Hause brachte und keine Mädchen, von Anfang an das Gegenteil von seinem Bruder, das hat er oft genug gehört.
Tief in seinem Inneren beneidete er seinen Bruder, den, dem alles egal war, denjenigen, der die Mädchen nach Hause brachte, denjenigen, der seiner Mutter Kummer bereitete und von dem sie deshalb die ganze Zeit sprach.
Es waren die kurzen Augenblicke, in denen ihm Mutter übers Haar strich und ihn ihren Lieblingssohn nannte, für die er lebte, in jenen Augenblicken glaubte er ihr, doch wenn sie dann mit zornblitzenden Augen vor seinem Bruder stand und ihn schalt wie eine Furie, dann wusste August, wen seine Mutter wirklich liebte.
Nun sitzt er da und wartet, den endgültigen Beginn seiner Unikarriere vor Augen, noch zweifelt er, noch befürchtet er, daß die SMS seines Freundes Jürgen, der in der Berufungskommission sitzt, eine tröstende sein wird und keine triumphale, aber er weiß auch, wen er als erstes anrufen wird, wenn er die gute Nachricht erhält.
Nochmals rechnet er sich seine Chancen aus. Von den zehn Mitgliedern der Kommission wollten ihn vier von Anfang an, noch vor Beginn der Anhörungen. Beim Hearing selbst macht er zwar keine besonders gute Figur, und gerade der Vortrag der Tussie aus Kiel war unschlagbar gewesen, das musste er zugeben. Ausserdem sah sie auch noch so unverschämt gut aus, daß er schon fürchtete, seine als sicher geglaubten Stimmen würden auch noch flöten gehen. Jürgen hatte geradezu gesabbert angesichts von so viel Schönheit und Intelligenz in einem.
Doch Professor Strauß war seine Rettung gewesen. Sie hatte all ihre Autorität in die Waagschale geworfen, bis ihr schließlich sieben der zehn zusicherten, daß sie auf jeden Fall für ihn stimmen würden. Frau Strauß hatte ihn schon von Anfang unterstützt, er wusste selbst nicht, warum. Sie hatte ihm auch den Studienaufenthalt in Paris nahegelegt, und zweifellos war der der Knackpunkt seiner Karriere gewesen. Alte Professoren lieben engagierte junge Leute, die nah am Objekt arbeiten.
Von Anfang an hatte ihm die Idee nicht gefallen, zwei Monate lang irgendwelche Jugendliche in den Pariser Vorstädten zu interviewen. Paris mochte August nicht besonders, und die Banlieue schon gar nicht. Die Stadt war ihm zu groß und zu hektisch, und wenn er an die Banlieue dachte, hatte er vor allem brennende Autos und islamistische Jugendliche im Kopf.
Die ersten drei Tage tat er gar nichts, drückte sich um die Banlieue, fuhr auf den Eiffelturm und den Arc de Triomphe und schlich um die diversen Etablissements von Pigalle herum.
Als die Stimme in seinem Kopf zu laut wurde, fuhr er schließlich hinaus nach Bondy, überwand sich, setzte sich in Cafés, sprach gegen seinen Willen Jugendliche an. Die meisten waren ganz nett, das musste er zugeben, manche sogar richtig begeistert von seinem Vorhaben, er musste dann alles genau erklären, dass er gerade seine Doktorarbeit schrieb, dass er analysierte, in welcher Weise die Jugendsprache von der Standardsprache abwich, ob die Schichtzugehörigkeit einen Unterschied machte, ob die Fünfzehnjährigen andere Worte benutzten als die Zwanzigjährigen und so weiter und so fort. Jedesmal, wenn er seine Arbeit erklärte, kam sie ihm völlig absurd vor, und noch absurder kam ihm vor, daß viele der Jugendlichen einfach nicht verstanden, warum er das machte, da merkte man doch den Unterschied in der Bildung, dachte er sich und lächelte nachsichtig.
Mit der Zeit lernte er, Gruppen zu vermeiden. Wenn sechs oder sieben Jugendliche zusammensaßen, hatte er kaum eine Chance, da waren sich alle zu cool, oder hieß das jetzt „branché“ oder „câblé“?
Die einzelnen und die Paare, die kriegte man. Viele waren zwar ziemlich skeptisch, wenn er ihnen eröffnete, daß er ihre Stimme aufnehmen wollte, aber die meisten waren einverstanden, sobald sie ihm glaubten, dass er nichts mit der Polizei zu tun hatte. Bei vielen dachte er gar, sie hätten fast mehr Interesse als die Studenten in Deutschland, das war ja auch kein Wunder, schließlich hatten sie ja den ganzen Tag nichts zu tun, in ihrem Ghetto.
Die zwei, deren Namen er nicht mehr wusste, traf er zum Glück erst gegen Ende des zweiten Monats. Sie waren beide siebzehn oder achtzehn Jahre alt, sie sahen gut aus, gepflegt, die Beziehung schien ihnen einen gewissen Halt zu geben, Hoffnung gar, besonders auf dem Mädchen ruhten Augusts Augen mit Wohlgefallen. Ihre Stimme zog ihn in ihren Bann, sie erinnerte ihn an etwas, jemanden, ein fernes Echo eines anderen Daseins. Dass meist der Junge sprach, ärgerte ihn, da hatte man wieder dieses typische machistische Verhalten jugendlicher Muslime.
August sah es als seine Pflicht an, das hübsche Mädchen besonders oft zu Wort kommen zu lassen. Irgendwann gab der Kerl genervt auf, er müsse noch zu seinem Basketballtraining. Das Mädchen blieb noch eine Weile bei ihm sitzen. August hatte einen großen Sieg für den Feminismus errungen. Er verstand sowieso nicht, was das Mädchen mit diesem Niemand wollte. Ihre braune Haut glänzte, als steige sie gerade aus einem Bad kostbarster Edelsteine, ihr Lächeln entzündete in seinem Bauch ein wärmendes Lagerfeuer, und die anregende Mulde zwischen ihren Brüsten versprach ihm Antworten auf alle Fragen, die er sich jemals stellen wollte.
Er bestand darauf, sie nach Hause zu begleiten, ließ keinen Einwand gelten. Der leicht gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht erinnerte ihn an ein scheues Reh. Rehe sind dazu da, gejagt zu werden, dachte er und betrachtete ihre Hüften. Der Andere war kein Jäger, ein schaler Abklatsch patriarchaler Konzepte – aber er, er hatte sie begriffen, die ewige archaische Jagd, schon drückte er ihre Hüften gegen die Betonwand der Unterführung, das Reh war gestellt, keine Rettung im Wald, seine Hand auf ihre vollen Lippen gepreßt, die andere reißt an ihrem Hemd. Dass seine Hand blutet von ihrem verzweifelten Biss, merkt er kaum, er horcht nur auf ihren Schrei, der in die Nacht hinaus schallt. Er erinnert sich, er weiß, an wen ihn die Stimme erinnert, krümmt sich am Boden, ein kleines wimmerndes Kind, nicht der Tritt in die Eier schmerzt, sondern der Zorn der Mutter, die ihn endgültig verlässt, hastigen Schrittes entfernt sie sich.
Zorn steigt in ihm auf, wie er ihn lang nicht verspürt hat, er will es ihr zeigen, der Mutter mit den verwehrten Brüsten, bald wird er sie eingeholt haben, er wird sie zerfetzen in einer letzten machtvollen Vereinigung.
Ihr Blick läßt ihn erstarren, wieder ist er der kleine Junge, voller Zorn und Angst. Gut, dass er bald abfährt. Die Zukunft wartet.
Sie wartet immer noch. Zorn steigt erneut in ihm hoch. Wieder hat Mutter gewonnen. Eine ewige Niederlage. Bald wird die SMS kommen. Er wird sie anrufen, die große Ruchlose, sie wird endgültig gewinnen, ihr Sohn endlich einer der Großen, der Erfolgreichen, einer, den man vorzeigen kann in aller Welt.
Nein, diesen Sieg bekommst du nicht, denkt er und es durchfährt ihn heiß, ich werde ablehnen, versagen im entscheidenden Augenblick, scheißen auf die Jugendsprache und die Banlieue, kein Mustersohn mehr, ein glücklicher Versager, ein menschlicher Abschaum, der die Rehe grasen lässt und die Jäger erschießt.
Als das Handy klingelt, setzt sich August aufrecht hin, Ruhe im Herzen, er hat es geschafft: „Gratuliere, August, du hast die Stelle. Sieben Stimmen zu drei! Komm doch rüber ins Institut, wir machen eine kleine Feier!“
„Bin gleich da, muss nur noch kurz einen Anruf machen.“
Ohne nachzudenken, wählt er eine Nummer.


Gerd Schmidinger

Letzte Aktualisierung: 01.06.2010 - 15.36 Uhr
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