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Zielgerade | Juni 2010

Einmal noch ...
von Marie Brand

Schleichend bewegte er sich zur Garderobe. Nur durch die einen Spalt breit geöffnete Tür zum Wohnzimmer fiel etwas Licht in den Korridor. Er tastete nach seiner Jacke, nahm sie vom Haken und fühlte kurz nach dem Schlüssel. Weiter ging er über die alten Holzdielen, die leise knarrten, zur Wohnungstür. Er würde es nie schaffen, sie lautlos hinter sich zuzuziehen. Doch schon als er seine feuchten Finger zur kühlen Klinke ausstreckte, ertönte aus dem Wohnzimmer der Ruf: „Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, brauchst du nie mehr wiederzukommen.“
Er zuckte zusammen und spürte die Trockenheit in der Kehle. Sie hatte ihn ertappt.
„Wir haben eine Vereinbarung.“
Wahrscheinlich hatte sie nur auf das leiseste Geräusch gewartet, auf einen Luftzug, einen Schatten. Er war für sie inzwischen zu leicht zu durchschauen.
Jahrelang hatte er sie täuschen können, hatte sein Spielchen mit ihr gespielt. Er hatte Überstunden vorgetäuscht, jede Gelegenheit genutzt. Aber seitdem auch in ihrem Portemonnaie Geld fehlte, nicht nur einmal, wurde aus Gutgläubigkeit Misstrauen, aus Vertrauen Überwachung. Ja, sie war ihm gefolgt. Über Wochen. Nachdem sie Bescheid wusste, hatte sie versucht, ihm zu helfen, hatte ihn zur Beratung geschleppt. Er hatte sich sogar in der Spielbank sperren lassen! Noch jetzt zitterte er, wenn er an die funkelnden, ratternden Automaten dachte. Seine Augen glänzten, wenn sie durch seine Erinnerung klirrten, den Sieg verheißend. Das hatte sie ihm genommen.
Er holte tief Luft, schloss die Hand um die Türklinke und drückte sie nach unten durch. Heute war sein Tag, er wusste es. Es würde wieder alles wie früher, wenn er heute gewann. Ein neues Startgeld, das er vermehren konnte. Kleider für sie, ein neues Auto, vielleicht eine hübschere Wohnung für sie beide. Unwillkürlich musste er lächeln. Er tat das doch alles nur für sie. Heute würde alles anders. Und doch wieder so schön wie damals.
Der Korridor erhellte sich, sie stand in der Wohnzimmertür. „Thomas!“
Langsam drehte er sich um, ohne die Klinke loszulassen. Aus dem Treppenhaus fuhr kalte Luft in die Wohnung.
„Bleib hier!“ Über das Betteln war sie längst hinaus. Ihr Ton war scharf und berührte sein Ohr unangenehm.
Warte, nur noch heute. Er sprach es nicht aus. Stattdessen sagte er nur: „Marie.“
Sehnsucht klang daraus, prallte an ihr ab und warf sich in Wellen zu ihm zurück. Marie.
„Du belügst dich selbst“, antwortete sie milder.
Sein Blick fasste ihre Augen, tauchten ein in das Graugrün, in ihre gemeinsame Vergangenheit. Sie liebten sich schmerzvoll, nicht mehr unbefangen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie, als könnte sie seine Gedanken erfassen. „Aber ich will nicht mehr. Wenn du jetzt gehst, ist es vorbei.“
Die Worte erreichten ihn. Sie liebte ihn, er wusste es. Heute würde er gewinnen, alles würde gut werden. Er musste sich beeilen, die Rennen gingen gleich los.
„Nur zwei Stunden, dann bin ich wieder da. Du brauchst nicht zu kochen. Wir können essen gehen. Nachher“, sprudelte es aus ihm heraus. Den Impuls, auf sie zuzugehen, ihre Wange zu streicheln, unterdrückte er. Nachher war noch viel Zeit. Jetzt musste er gehen.
„Selbst wenn du gewinnst, verlierst du.“ Den Satz warf sie ihm nach, während er die Tür von außen bereits zuzog und die Treppe hinuntereilte. Die Zeit drängte. Die Pferderennen warteten nicht auf sein Kommen wie die Automaten.
Nur zwei Straßen weiter betrat er das Wettbüro. Laminat bedeckte den Fußboden, ein paar Küchenstühle standen um Kunststofftische. An jeder Wand hingen drei Fernseher. An der Theke hatte der Typ seine dünne dunklen Haare wie immer zum Pferdeschwanz gebunden. Nur drei Männer saßen auf den Barhockern und tranken den schwärzesten Kaffee, den es gab. Alkohol durfte nicht ausgeschenkt werden. Auf den Tischen lagen lange Tabellen von Wettergebnissen, Prognosen, Beschreibungen mit den Vorzügen und Nachteilen einzelner Pferde.
Gelegentlich besuchte Thomas auch die Rennbahn, und er war empfänglich für die geschäftige Atmosphäre. Die Pferde konnte er sogar berühren, ihr Feuer in den Augen sehen. Doch die Rennen fanden dort nur alle paar Wochen statt. Hier hatte er die Chance, auf nahezu alle Rennen der Welt zu setzen. Heute musste es ein Trabrennen in Daglfing sein. Ribanna würde im siebten Rennen starten. Eine wunderschöne braune Stute, die in den letzten Rennen schon gut ausgesehen hatte. Von ihr hatte er heute Nacht geträumt. Erinnerte sie ihn nicht an seine Kindheit mit Geschichten aus dem Wilden Westen? Mit ihr würde er gewinnen.
Die Quoten verhießen keinen Reichtum, aber er wollte auf Sieg setzen. Dafür waren sie ganz anständig. Außerdem hatte er tausend Euro lockermachen können. Diese Woche hatte er schon einiges Glück gehabt. Praktisch war der alten Dame ja das Geld aus der Tasche gefallen. Es hätte zumindest rausfallen können, so weit oben wie sie die Geldbörse auf das Gemüse gelegt hatte.
Zielstrebig ging er auf den Tresen zu und setzte alles auf dieses eine Rennen. Mit dem Gewinn könnte er noch im neunten Rennen setzen. Da lief Windisham. Auch sehr vielversprechend. Während er sich setzte, zeigten sie auf den Fernsehern den Einlauf des zweiten Rennens.
Ganz ruhig nahm er sich die Tabellen vor und verglich die Prognosen mit dem Zieleinlauf. Sieg und dritter Platz passten. Zweiter wurde ein Schwarzer, der nicht gesetzt war. Traumhafte Quote. Aber vorbei. Von den Barhockern kletterte einer herunter und verdrückte sich zum Rauchen nach draußen. Thomas schlenderte zur Theke und orderte auch einen Kaffee, in den er fünf Stücke Zucker versenkte.
Das dritte Rennen wurde angekündigt. Er nahm seinen Platz ein und tastete in der Tasche nach dem Schein. Tausend Euro wert. Nein, zehntausend Euro wert. Er behielt die Hand lieber dort und versicherte sich, dass er das dünne Papier fühlen konnte. Vier, fünf, sechs gingen vorbei.
Sieben. Ribanna startet auf der dritten Bahn von innen. Eine gute Ausgangsposition. Sie tänzelt. Start! Die Pferde nehmen Fahrt auf. Ribannas Mähne weht hinter ihr her, der Hals streckt sich nach vorn, die Muskeln spielen bei jedem Schritt. Elegant setzt sie die Hufe, schiebt sich vorbei an zwei Konkurrenten, die besser weggekommen waren. Die Kurve nimmt sie auf der zweiten Bahn, muss etwas mehr laufen, liegt gleichauf mit der innen laufenden Stute. Auf der Geraden fliegt sie weiter. Ein Rappe liegt vor ihr, der Favorit des Rennens. Ribanna setzt ihm nach, sie will gewinnen. Noch ist Zeit. Sie holt auf. Hinter ihr lauern zwei weitere Pferde. Wieder muss sie auf der Außenbahn mehr laufen als der Schwarze. Doch sie hält mit, rückt sogar vor, ist am Ausgang der Kurve nur noch einen halben Kopf dahinter. Lauf, lauf, fiebert Thomas mit. Auf seinem Stuhl hat er sich längst vorgebeugt, näher zum Fernseher. Zentimeter um Zentimeter kommt Ribanna nach vorn. Beide Pferde schenken sich nichts. Die Großaufnahme zeigt ihre geblähten Nüstern, den braunen Kopf fast im Gleichklang mit dem Schwarzen. Thomas ballt die Hand um den Wettschein, zerknüllt ihn regelrecht. Lauf! Gleich bist du da. Nur noch ein paar Meter. Und Ribanna jagt weiter, das Ziel vor Augen. Die Kameraeinstellung schwenkt zum Zieleinlauf. Sie kommen, liegen fast gleichauf, die Zeitlupe zeigt: Ribanna wird ... Ribanna hat gewonnen! Thomas fällt zurück auf den Stuhl, kann es trotz der Gewissheit kaum glauben. Sein Herz schlägt spürbar.
Er wusste es, er hatte es gewusst. Ja. das war es. Er war in der Spur. Fest hielt er das geknüllte Papier in seiner Hand.
Nach einigen Augenblicken richtete er sich wieder auf, griff nach dem Kaffee. Bittersüß.
„Glückwunsch“, grummelte es von der Theke.
Thomas warf einen Blick auf die anderen im Raum. Er musste vorsichtig sein. Zehntausend Euro waren eine Versuchung. Aber er konnte keine Gefahr entdecken. Trotzdem. Es zog ihn plötzlich nach Hause. Ein neuntes Rennen brauchte er nicht. Seine Freude wollte er teilen, Marie sollte es sofort erfahren. Sie würden essen gehen. Hatten die Geschäfte noch auf? Ein grünes Sommerkleid, passend zu ihren Augen.
Das wichtige Papier strich er noch glatt, bevor er es gegen viele neue Scheine tauschte. Voller Vorfreude eilte er hinaus, lief beschwingt die zwei Straßen entlang, nahm je zwei Stufen auf einmal, während er bereits den Schlüssel ergriff. Den Schlüssel ins Schloss stecken, die Tür aufschwingen, Marie rufen, sie in den Arm nehmen, ihr Haar riechen, das war für ihn eins.
„Marie!“ Er würde sie besänftigen. Ja. Seinem Strahlen in den Augen konnte sie nie widerstehen.
Die Luft des Treppenhauses fuhr in die Wohnung. Thomas kümmerte sich nicht darum. Er stieß die Wohnzimmertür auf. Keine Marie. Alle Zimmer durchsuchte er. Sie war nicht zu finden. Im Bad. Sicher war sie dort. Ungestüm riss er die Tür auf, die gegen die Badewanne prallte. Marie war nicht da.
Als er das Bad verließ, fiel sein Blick auf die Ablage. Da stand eine Zahnbürste. Nur eine. Mit wenigen Schritten war er am Kleiderschrank. Ihre Hälfte war leer. Er konnte es nicht fassen.
Wieder stürmte er durch alle Zimmer, und überall vermisste er Dinge, die ihr gehörten. Irgendwann sank er auf das Sofa. In seiner Jackentasche raschelten die Scheine. Seine Hand zuckte danach, umklammerte sie. Er schloss die Augen.

Letzte Aktualisierung: 27.06.2010 - 13.44 Uhr
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