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Zielgerade | Juni 2010

Zielgerade
von Hauke Reetz

15.06.2010, 13.43 Uhr.

Er lag in seinem Bett und dachte zufrieden, dass er alles erledigt hatte. Es war Nachmittag, und draußen schien die Sonne. Es war ein schöner Tag.
Nur das Piepen des Gerätes störte die ansonsten himmlische Ruhe. Piep-Piep-Piep. Aber auch das wäre bald verstummt.

Zwölf Wochen früher.

Er saß im Flur der Arbeitsagentur und wartete nun schon seit fast einer Stunde darauf, dass er endlich dran kam. Es würde sowieso nichts bringen, wer wollte denn einen 46-jährigen Maler einstellen, der Rückenprobleme hatte?

Nur noch diesen Monat gab es für ihn das Arbeitslosengeld I, ab nächsten Monat mussten sie den Gürtel dann noch enger schnallen, dann wäre er „Hartzer“.

Wie er damit seine kleine Familie ernähren sollte, wusste er nicht.
Die Klassenfahrt seiner Tochter Klara stand an, das Auto würde es auch nicht mehr lange machen und seine Frau machte Kurzarbeit. Alles in allem sah es nicht rosig aus.

„Und“, fragte seine Frau, als er vom Arbeitsamt kam.

„Nichts und“, sagte er, „war ja auch nicht anders zu erwarten“.

„Und beim Arzt?“, fragte Sabine, seine Frau.

Thomas zögerte, dann antwortete er: „Alles in Ordnung, nur das Übliche“.

Er lag wach im Bett und dachte nach. Alles zerbrach. Sein Leben zerfiel zu Staub, wurde verteilt, nur für ihn blieb nichts mehr davon übrig.

„Hartz 4!“, dachte er. Er hatte seit dem sechzehnten Lebensjahr gearbeitet, wurde letztes Jahr wegen drohender Insolvenz der Firma entlassen. Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Und jetzt Hartz 4!

Das konnte er seiner Familie nicht zumuten. Seine Tochter wünschte sich ein eigenes Pferd, seine Frau endlich einmal Urlaub am Meer. Wie gerne würde er ihnen diese Wünsche erfüllen. Selbst als er noch Arbeit hatte, konnten sie sich Urlaub nicht leisten, das ganze Geld ging in das kleine Zechenhaus, das sie sich vor einigen Jahren gekauft hatten und das er in Eigenarbeit renoviert hatte.

Er hatte nicht mehr viel Zeit. Wie sollte er in dieser kurzen Zeit die ganzen Probleme lösen? Um auf andere Gedanken zu kommen, nahm er sich den Thriller vom Nachttisch und fing an zu lesen. Diamantenraub, Millionencoup, schöne Frauen, ein Leben in Luxus. Stunden später, als der Morgen schon graute, schlief er ein.

Als er aufwachte, war seine Tochter schon in der Schule und seine Frau arbeiten.

Er machte sich Rührei, nahm die Fleischwurst aus dem Kühlschrank, schnitt sich zwei Scheiben Brot ab und trank zur Feier des Tages ein Bier zum deftigen späten Frühstück. Darauf hatte er jetzt einfach Lust. Und es schmeckte außergewöhnlich gut.

Er hatte fast im Schlaf diese Idee entwickelt, nichts Konkretes, nur diese vage Idee.

„Das wäre die Lösung für alle Probleme, na ja fast alle“, dachte er. Nun musste er nur noch entscheiden, ob und wie er diese Idee mit Leben füllen würde.

Er frühstückte und las dabei die Tageszeitung. Auf Seite drei blieb er an einem Artikel über einen Überfall auf einen Geldtransporter hängen. Der Täter wurde bereits am nächsten Tag gefasst. „Das war das Problem“, dachte er, „die meisten wurden geschnappt“. Aber das wäre bei ihm nicht so, für ihn wäre das kein Problem.

Nach dem Frühstück zog er sich an und fuhr mit dem Bus in die Stadt. Dort schlenderte er scheinbar ziellos umher. Als er am Nachmittag wieder zu Hause war, hatte er sich acht Banken angeschaut und so viele Informationen wie möglich über die jeweilige Umgebung gesammelt.

In den folgenden Tagen lebte er über seine Verhältnisse, saß er doch stundenlang in Straßencafes und trank teuren Kaffee. Er sah es als eine Investition, die erforderlich war, um seine Idee umzusetzen.

Auch seiner Frau fiel auf, dass er für ihre Verhältnisse zu viel Geld ausgab.

Als sie ihn darauf ansprach, antwortete er nur, das gehe schon in Ordnung, schon bald würde es wieder aufwärts gehen, sie werde schon sehen.

„Ach Thomas“, sagte sie nur. „Ich weiß doch, dass es schwer für dich ist, mit der Situation umzugehen. Meinst du, ich bin mit der Situation glücklich?“.

Er lächelte sie nur an und antwortete:“ Alles wird gut, das verspreche ich Dir. Ich liebe Dich!“

Eine Woche später besorgte er sich in einer dunklen Spelunke am Hauptbahnhof von ihren letzten Ersparnissen eine Pistole. Nicht, dass er jemanden damit verletzen wollte. Nein, das auf keinen Fall. Nur wollte er das Ding mit Stil durchziehen, wenn schon, dann richtig. Seiner Meinung nach gehörte eine echte Pistole dazu. Vielleicht würde er ein-, zweimal in die Luft schießen, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Vor Gericht käme das natürlich nicht so gut an, aber soweit würde es bei ihm nicht kommen, das war sicher.

Thomas saß gegenüber der Deutschen Bank im Cafè und schaute auf seine Uhr. „Noch elf Minuten, dann kommt der Geldtransport“, dachte er. Er trank seinen Espresso und lächelte, als er wenige Minuten später den gepanzerten Transporter der Sicherheitsfirma vor der Bank halten sah. Beide Sicherheitsleute stiegen aus, denn sie hatten am zweiten Freitag im Monat immer drei Geldkoffer gleichzeitig zu transportieren.

Er überlegte, ob es wohl dieselben Sicherheitsleute sein würden, wenn er zuschlug. Er sollte sich auf jeden Fall bei ihnen für den Schreck entschuldigen, das gehörte sich einfach so. Er wäre ein Gentleman-Räuber, ein moderner Robin Hood, nur ohne das Geld zu verteilen. Das gefiel ihm.
Was wohl die Zeitungen schreiben würden?

„Heute ist der große Tag“, schoss es Thomas durch den Kopf. Er hatte sich gerade von seiner Tochter und seiner Frau verabschiedet, bevor diese das Haus verlassen hatten. Heute hätte er die einmalige Chance, die Weichen für die Zeit danach zu stellen, endlich mal wieder etwas für seine Familie zu tun.

Er zog sich an, holte die Waffe aus dem Versteck im Keller, verließ das Haus und fuhr mit dem Wagen zum fünf Kilometer entfernten Waldparkplatz des nahe gelegenen Naturschutzgebietes. Hier parkte er den Wagen. Dann ging er anderthalb Kilometer bis zur Bushaltestelle, wo er einen Bus in Richtung Stadt nahm.

Danach ging alles wie von selbst. Als der Geldtransport vor der Bank vorfuhr, stand er auf und verließ das Cafe. Dann überquerte er die Straße, wobei er sich eine alte zurecht geschnittene Wollmütze über den Kopf zog. „Was für ein Fehler“, dachte er sich, „eine Wollmütze im Sommer, wie bekloppt war das denn?“. Aber es machte auch nichts, er würde seinen Plan durchziehen, so oder so.

Als die beiden Wachmänner den Transporter verließen, ging alles ganz einfach. Er zog die Pistole, gab ihnen klare Anweisungen und entwaffnete die beiden.
Dann zwang er sie wieder ins Auto, und erklärte dem Fahrer, wo er lang fahren sollte. Nach wenigen Minuten fiel ihm ein, was er sich vorgenommen hatte. Er entschuldigte sich bei den beiden Wachleuten für den Schrecken, den er ihnen eingejagt hatte, und versicherte gleichzeitig, dass ihnen nichts passieren würde. Er war merkwürdig ruhig und hatte ein nie da gewesenes Gefühl, alles richtig zu machen.

Nachdem sie die Stadt verlassen hatten und sich bereits auf einer Landstraße befanden, bedeutete er dem Fahrer, rechts in einen Waldweg abzubiegen. Nach ca. einem Kilometer ließ er sich die Schlüssel geben und ließ die beiden Wachmänner zurück, nicht, ohne sich ein letztes Mal zu entschuldigen.

Er fuhr los, zurück auf die Landstraße, und nach nur einem weiteren Kilometer fuhr er auf den Waldparkplatz, wo sein Wagen stand. Er leerte die drei Geldkoffer und stopfte das viele Geld in zwei große Sporttaschen. Dann fuhr er in seinem alten Golf zum Haus seiner Schwiegermutter. Hier würde er das Geld in der Garage lagern, die seine Schwiegermutter schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte.

Alles war so einfach. Bis jetzt jedenfalls. Aber das Schwerste stand ihm noch bevor.

Beim Abendessen erzählte seine Frau beiläufig, dass ein Unbekannter am helllichten Tag einen Geldtransporter überfallen und 2,4 Millionen Euro erbeutet hätte. Thomas grunzte beiläufig. Er war mit sich zufrieden. „2,4 Millionen“, dachte er, “das würde ausreichen“. Zum Zählen hätte er sowieso keine Zeit gehabt, jetzt wusste er wenigstens, wie viel Geld sich nun in Schwiegermutters alter Garage befand.

Als er nach dem Essen noch mit seiner Tochter Klara gespielt und diese dann besonders liebevoll ins Bett gebracht hatte, setzte er sich zu seiner Frau ins Wohnzimmer.

„Wir müssen reden“, sagte er mit einem Kloß im Hals.

„Ist was passiert?“ fragte Sabine. Eine unheilvolle Atmosphäre lag in der Luft.

Sie redeten bis die Sonne aufging. Zwischendurch brach Sabine immer wieder in Tränen aus und es dauerte dann immer etwas, bis sie sich wieder gefasst hatte. Als es Morgen wurde, hatte sie die Situation begriffen und war fast etwas stolz auf ihren Mann. Trotzdem war sie unendlich traurig. Sie musste nun stark sein, auch für Klara.


15.06.2010, 21.38 Uhr.

Thomas lag im Krankenhaus und konzentrierte sich ganz auf das Piep-Piep-Piep des Überwachungsgerätes, das verkündete, dass er noch am Leben war.

Sabine hatte er eingeschärft, das Geld mindestens ein Jahr nicht anzurühren.
Lediglich einen Urlaub ans Meer dürften sie machen, nach der Beerdigung.

Er selbst hatte sich der Polizei gestellt, nachdem er Sabine alles erklärt hatte. Da er wegen der Krankheit nicht haftfähig war, musste er nicht in das Gefängnis, sondern lediglich ins Justizkrankenhaus. Einen Prozess hätte er ohnehin nicht mehr erlebt.

In der Zeit nach dem Ãœberfall ging es rapide mit ihm bergab. Er musste der Krankheit jeden Tag etwas mehr Tribut zollen.

Hier lag er nun und wartete darauf, dass das Piepen verstummte, und die Zacken der Digitalanzeige sich zu einer flachen Geraden wandelten, seiner persönlichen Zielgeraden. Eine knappe Stunde später gab das Gerät nur ein lang gezogenes Pieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeep von sich, und er war am Ziel.

Drei Wochen später saß Sabine mit ihrer Tochter auf einer einsamen Düne am Meer und sie schauten gemeinsam in den orangeroten Sonnenuntergang, hielten sich fest und weinten.

Letzte Aktualisierung: 27.06.2010 - 14.41 Uhr
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