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Zielgerade | Juni 2010

Morbus Scaenicus desperatus
von Jochen Ruscheweyh

„Ich mag die Typen da drüben nicht!“. Vanessa deutete auf die Gruppe, die sich an der Bushaltestelle gegenüber zu versammeln begann, während wir ausluden.
„Ach was, die wollen halt zu unserem Gig. Ist doch gut, solche Leute machen Stimmung.“ Mariuszs Optimismus in allen Ehren, aber diesmal kaufte ich ihm sein Sunshine-Feeling nicht so recht ab. Mariusz rauchte jede seiner unverzollten Polnischen ganz sauber bis zum Filter runter, und wenn er sich wie jetzt eine neue anmachte, solange er noch einen Finger breit zu saugen hatte, dann war wirklich was im Busch.
Ein kleiner, dicker Kerl mit zu eng sitzender Jeanskutte löste sich aus der Gruppe, leerte einen Flachmann Dornkaat und zerschmetterte die kleine grüne Flasche auf dem Gehsteig. Dann setzte sich der Trupp unisono in Bewegung, überquerte die Strasse und positionierte sich vor unserem Transporter.
„Eye, Schwuchteln, wisst ihr, wer ich bin?“, fragte der Kuttenträger.
„Nee, aber ich wette, du erzählst es uns gleich!“, antwortete ich, vielleicht eine Spur zu forsch.
„Black Dynamite wird´s euch sagen!“, gab der Untersetzte zurück, griff ohne sich umzusehen hinter sich und zog ein dunkelhäutiges Mädchen, das ihn um mindestens zwei Köpfe überragte, aus der zweiten Reihe nach vorn, indem er einmal kurz aber kräftig an ihrem Handgelenk riss.
Mit einer geschmeidigen Bewegung, die der eines Leoparden ähnelte, entzog sie sich seinem Griff und bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Zweifel daran ließ, dass sie ihm beim nächsten Mal mit ihren Fangzähnen die Halsschlagader öffnen und dort größere Fleischstücke herausreißen würde. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Er ist Atom. Er macht die Regeln, und er allein bestimmt, wer hier spielt und gewinnt.“
„Wir haben uns ganz normal angemeldet wie alle anderen auch. Wo also ist das Problem?“, erkundigte ich mich eine Spur dezenter als beim ersten Mal.
Die Raubkatze schüttelte den Kopf und gähnte demonstrativ.
„Ähh, wenn das jetzt so eine Pay to play - Sache werden soll, kein Problem, wir haben die Kohle“, hüstelte unser Drummer Tim aus dem Inneren des Transporters.
Der Typ, der sich scheinbar Atom zu nennen pflegte, schielte auf unsere unzerschrammten, aufkleberfreien und obendrein noch wohlriechenden Flightcases - in die Vanessa immer diese Vanilleduftanhänger packte, weil sie den modrig tauben Geruch, den Röhrenamps nach dem Abkühlen verströmen, nicht ausstehen konnte. Direkt daneben: Sauber aufgewickelte Speaker-Kabel und die glanzpolierte Chromhardware von Tims Drumkits.
„Ist das eure Backline?“, wollte der nur im Reaktor Spaltbare wissen.
Ich guckte zu Mariusz rüber, dessen polnische Spindel-Finger in bester Marek&Vacek-Manier auf der Tastatur seiner Oberschenkel Akkordzerlegungen zu klimpern schienen.
„Wie genau definierst du Backline?“, gab ich zurück.
„Ich kann´s nicht haben, wenn ´ne beschissene Studenten-Kiffer-Band bei so ´nem Contest hier mit Nobelequipment auftaucht, dass Vattern bezahlt hat. Das is´ nicht das, was ich unter Chancengleichheit verstehe, was Dynamite?“
Die Erwähnte richtete ihren Nacken auf, zog hoch und spukte aus. Vanessa blickte mich hilflos an, während sich Dynamites zähflüssiger Auswurf schwerkraftbedingt seinen Weg das Bassdrum-Fell hinunter gen Boden suchte.
„Und du, Prinzessin, was is´ dein Part in der Nutten-Band hier? Spielst du Posaune?“, insistierte Atom weiter.
„Ich singe und außerdem spiele ich rein zufällig ... Querflöte.“
Die Truppe brach in kollektives Gelächter aus. Ich sah zu Mariusz rüber, der immer noch unter seinen zwanghaften Akkordzerlegungen litt.
„Dann bist du wohl so was wie die Kapellmeisterin von eurer Lutscher-Kombo. Spiel mal was für mich und meine Freundin Dynamite.“, sagte Atom und klopfte sich aus einer verbeulten Weichpackung Lucky Strike eine Kippe heraus, die er sich hinter sein Ohr steckte.
„Ich möchte jetzt nicht spielen ... .“, flüsterte Vanessa kaum hörbar.
Mit einem Großkatzen-ähnlichen Satz, den ich ihm aufgrund seines schweren Körperbaus nie zugetraut hätte, stand Atom plötzlich unmittelbar vor Vanessa und strich sich über seine unrasierte Oberlippenpartie, auf der ich einzelne Schnurrhaare zu erkennen glaubte .
Ich nahm Anlauf, aber noch bevor ich Atom meine Faust in seinen fetten Wanst rammen konnte, hatten mich zwei seiner Rudelgenossen gepackt. Einen Arm verdreht, mein Hals in einer fremden Armbeuge fixiert, konnte ich nur zusehen, wie Dynamite, die wie ein Ansitzjäger gewartet hatte, sich mir langsam näherte. Wären wir uns in der Steppe begegnet, hätte sie mir wahrscheinlich den Bauch aufgerissen, meine Innereien herausgenommen und für den späteren Verzehr vergraben. Stattdessen setzt sie zu einer heftigen Kopfnuss an, die mir bestimmt das Nasenbein gebrochen hätte, wäre es mir nicht im letzten Moment gelungen, meinen Kopf noch ein wenig anzuheben. Mit dem Klang einer sich öffnenden Knack&Back-Teigpackung platze meine Lippe.
Durch den Tränenschwall, den mir der Stoß das Gesicht hinunter trieb, erkannte ich unscharf die vertrauten Umrisse von Vanessa, die „Du verdammtes Macho-Arschloch! Meinst du, ich kann meine Konflikte nicht selber lösen?“ in meine Richtung Angry-Andersonte, mit einem Selbstvertrauen, das ich in ihrem Gesang bisher immer vermisst hatte. Eine super Sache im Prinzip, wären da nicht der Lippenriß und die Tatsache gewesen, vor versammelter Mannschaft abgekanzelt worden zu sein. Darin bestand also ihre Art, sich zu bedanken, dass ich ihr Songs auf ihre Stimme schrieb und ihr auf der Bühne hundert Prozent meiner Power gab, obwohl ich ... . Geschenkt. Stattdessen Tom-Keiferte ich zurück: „Das ist ja ´ne ganz neue Seite an dir. Kaum wollen ein paar Asis Stunk, kriegst du den Mund auf. Wenn man dich aber höflich bittet, etwas aggressiver zu singen, machst du sofort dicht. Klasse, Vanessa, echt klasse ... .“, wobei mir das „S“ in super lippentechnisch die größten Schwierigkeiten bereitete. „Meinst du mir fällt es leicht, auf die Bühne zu gehen und ...“. Weiter kam ich nicht.
„Was soll denn die Scheiße, Mann? Keiner spricht so mit der Prinzessin! Und keiner nennt mich Asi“, mischte sich Atom ein und platzierte sein Knie so effektiv unterhalb meiner Gürtellinie, dass mir die Luft wegblieb.
Einen Moment lang herrschte eine gespenstische Stille wie zwischen zwei Songs auf einer CD. Dann flogen auf einmal Schlagzeugteile aus dem Inneren des Transporters Richtung Strasse und ein völlig durchgeknallter Tim, unser sonst so entspannter Taktgeber, der vor wenigen Augenblicken noch für sein Glück bezahlen wollte, - ebendieser Tim brüllte:
„Ich warte schon so lange auf die Chance, an diesem Contest teilzunehmen und jetzt soll wieder alles Essig sein? Scheiße, Mann das ist nicht fair. Ihr Typen gehört nicht mal zur Jury. Setzt euch doch in ´nen Flieger und geht Eure Metall-Blödköppe in der Bay Area schütteln, die stehen bestimmt auf euer Gang-Ding!“.
Ich wurde mit einem gewaltigen Satz von Black Dynamite umgerissen, während sich meine beiden Wächter um unsere Rhythmusabteilung kümmerten.
Dann, plötzlich, in Mitten des Rudelangriffs begann Vanessa in aller Seelenruhe, ihren Flötenkoffer zu öffnen, entnahm ihr Instrument und schickte ein paar zauberhafte Melodien in die warme Nachmittagsluft.
Obwohl sie höchstens 10 Zentimeter größer war als er, wirkte es plötzlich, als kauere Atom in seiner Funktion als kleinste Einheit, in die sich Materie zerlegen lässt, in demütiger Haltung vor ihr, bis sie mit einem fulminanten Lauf in harmonisch Moll endete.
Er rieb sich die Augen und blinzelte mehrmals, ehe er seinen Beutejägern mit einem durchdringenden Zwei-Finger-Pfiff Einhalt gebot. „Eye, Childs, Satan lives in Hell und wir verpissen uns jetzt auch, klar?“
Black Dynamite ließ noch einmal ihre stecknadelkopfgroßen Pupillen aus ihren Sehschlitzen gen Vanessa blitzen und kreuztrabte dann mit walkendem Hinterteil dem Rest des Trupps Richtung Halle hinterher. Ihr großer „Twisted Sister“-Rückenaufnäher wippte dabei im Takt mit und die darauf abgebildete Fratze schien uns auszulachen: Kein Gig, kein Sieg und kein Plattendeal – No Future in England´s Dreaming.
Vanessa blickte sich noch einmal kurz um: Auf dem Asphalt die völlig zerstörte Drumhardware, meine immer noch blutende Lippe, Tim mit geschwollenen Augen und Mariuszs Hand, die wie ein dicker lilafarbener Brikett aussah. Dann schüttelte sie den Kopf und ging mit ihrem Querflötenkoffer unter dem Arm zur Haltestelle hinüber, wo sie wenige Augenblicke später in einen Linienbus stieg.

Ich habe die Geschichte meinem Neffen – er ist 13 - jetzt über ein Dutzend Mal erzählt und bei jedem Mal wird sie besser; mittlerweile so gut, dass ich fast selbst daran glaube und der Augenblick, in dem Mariusz, Tim und Vanessa bei mir schellen, um mich zu dem Contest abzuholen und ich hyperventilierend hinter der Tür kauere und mir bewusst ist, dass ich mit dem Druck, Songwriter und Performer zu sein, nicht länger umgehen kann, dass ich die Anonymität dem Starsein vorziehe, dass ich mir die unbeschwerten Tage der ersten Proben zurückwünsche und dass eher die Hölle gefrieren wird, als dass ich den Hausflur hinuntergehen und diesen entscheidenden Gig spielen werde, dass sich Vanessas enttäuschter Blick durch die massive Holztür frisst und meine komplette Seele scannt und ich wie ein paralysierter Syd Barrett in meiner Bude hocke – so gut, dass dieser Augenblick an Deutlichkeit verliert und ich mein Musikerdasein in drittklassigen Bands, die ich mit wiederkehrender Regelmäßigkeit verlasse, sobald sich Erfolg einstellt, beinahe mag.
Letzte Woche hat mich mein Neffe – er kennt keinen Angry Anderson und weiß auch nicht, dass es ohne einen Haufen Irrer in der Bay Area/San Franzisko harte Rockmusik in der heutigen Form nicht geben würde – also, letzte Woche hat er wieder gefragt, wann ich endlich Superstar werde.
„Bald“, habe ich ihn beruhigt. „Das Prinzip der Hetzjagd ist, dass die Beute durch Ausdauer erschöpft wird.“

Letzte Aktualisierung: 24.06.2010 - 21.19 Uhr
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