Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Chef | Juli 2010
Meister Lehmann bringt Farbe ins Leben
von Anne Zeisig

Walter Lehmann nahm eine eingekleisterte Tapetenbahn, schlug sie zu Dreiviertel um, hielt die Tapete auf Armeslänge von sich, stieg die Leiter hinauf und setzte die Bahnenkante unter der Zimmerdecke an.
Er kniff beide Augen zusammen, fischte eine Bürste aus seiner Arbeitshose und strich die Tapete von der Mitte zu den Seiten an die Wand. Stoß an Stoß und Muster an Muster mit den bereits angebrachten Bahnen. Der Meister arbeitete routiniert faltenlos bis hinunter zur Fußleiste. Das Bücken fiel ihm inzwischen besonders schwer. Sechsundvierzig Berufsjahre, teils in zugigen, ungeheizten Neubauten, hatten Spuren hinterlassen. Aber Tradition verpflichtete. Er führte die Firma in der dritten Generation.

Walter stemmte eine Hand in die Hüfte, als er sich aufrichtete.
„Lukas?” Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Arbeitsjacke den Schweiß von der Stirn. Warum antwortete der Junge nicht? Immer dasselbe. Walter rief noch einmal.
„Hast du was gesagt? Bin im Bad! Sollte doch die alte Tapete abkratzen!” Hallte es durch das leere Apartment.
„Ja! Aber die letzte Bahn hättest du noch einkleistern können. Weißt genau, dass der Kleister ziehen muss! Ich hab ´s erklärt.”
Er bückte sich nach dem Kleistereimer, tauchte den Quast ein und stöhnte: „Ein bisschen mitdenken, Junge, das ist doch nicht zu viel verlangt.” Walter strich den Kleber mit geübten Zügen auf das Papier. Dann hockte er sich auf eine Leitersprosse und rieb seinen Rücken. „Hau bloß keine Macken in den Putz!”, keifte er hinüber, „sonst schaffen wir es nicht bis Samstag.”
„Wer hat Macken? Ich nicht!”
„Der Putz!”
„Okidoki! Hab die Bahnen mit Tapetenlöser eingestrichen!”
Walter nickte und flüsterte: „Na, wenigstens ist etwas bei ihm hängen gebliebenen.”
Er öffnete den obersten Knopf seiner Arbeitsjacke, atmete tief durch und nahm den Telefonhörer ab: „Ja?”, sprach er in den Hörer, „hier Lehmann! Meister Lehmann bringt Farbe ins Leben.” Er lachte. „Hm. Ein Zimmer. Wischtechnik? Werd `s durchkalkulieren. Ich komme heute nach Feierabend vorbei.” Er bückte sich langsam und legte bedächtig den Hörer auf. Seine Finger zitterten leicht.

Walter bürstete die letzte Bahn an die Wand bis zur Bodenkante, stemmte wieder eine Hand in die Hüfte, erhob sich und begutachtete den Wohnraum.
„Solche Muster hatten wir Ende der Fünfziger. Hat mir schon damals nicht gefallen.” Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche.
„Was ist? Ich habe nichts verstanden!”
„Ich habe gesagt, dass mir das Tapetenmuster nicht gefällt!”
„Ich find ´s geil!”, hallte es aus dem Bad zu ihm hinüber.

„Geil”, flüsterte Walter kopfschüttelnd.
Abermals griff er zum Telefon: „Ja, Lehmann hier. Meister Lehmann bringt Farbe ins Leben ... morgen? Gerne. Um Fünf. Danke.” Walter trank wieder Wasser, um den Kloß in seinem Hals aufzulösen.
Er schüttelte seinen Kopf, nahm den Eimer mit dem Quast und ging ins Bad. Der Meister stellte beides in die Wanne: „Du weißt, wie man diese Arbeitsgeräte reinigt?”
Lukas stand auf einem Tritt, zog alte Tapetenfetzen von der Wand, und hielt nun die rechte Hand an seine Kappe und mimte einen Militärgruß: „Mit Leitungswasser, Herr Oberfeldwebel!”

„Lass den Quatsch.” Walter ließ Wasser in den Eimer laufen und legte den Quast hinein.
Sein Blick glitt über die Wandflächen. Das hatte der Junge gut gemacht. „Ich sehe, wir können den Termin halten. Hast solide und flott gearbeitet.”
Lukas lächelte: „Was macht der Rücken? Den Rest könnte ich heute alleine erledigen.”
Lehmann wusch sich die Hände: „Mit dem Kreuz wird `s nicht besser, wenn ich Faulenze. Wer rastet, der rostet.” Er wischte sich die Hände an den Seiten seiner Arbeitshose trocken.
Lukas gähnte: „Apropos Faulenzen. Jetzt ´ne Mittagspause, das wäre krassposi. Mir ist nach abchillen und `n Burger.”
Walter blickte auf seine Armbanduhr: „Ist erst Acht vor Eins. Und was heißt das schon, `krassposi´ und `abchillen´? Rede vernünftig mit mir.”
Der junge Mann stieg den Tritt hinunter, wusch sich auch die Hände und wiederholte: „Jetzt eine Mittagspause, das wäre sehr positiv. Mir ist nach abhängen, äh, will ausruhen und habe Hunger auf ´nen Burger, äh.”
Lehmann zeigte auf seine Uhr: „Ich mache seit sechsundvierzig Jahren um Eins Pause.”
Lukas stand mit dem Rücken zu Walter, zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen.
Der Malermeister ging in den Wohnraum, nahm seine Arbeitstasche von der Fensterbank, holte die Butterbrotdose heraus und machte es sich, so gut es ging, auf der vorletzten Leitersprosse bequem.
Er öffnete die Dose: Eine Schnitte mit Salami und eine mit Leberwurst. Wie immer.
Lukas erschien in der Tür: „Warum isst du nicht?”
„Ist noch nicht Eins”, grummelte Walter und rieb sich wieder über die Hüfte, „das hat was mit Disziplin und Organisation zu tun.”
Der junge Mann setzte sich ans geöffnete Fenster und blinzelte in die Sonne: „Wäre ultrageil, wenn wir Freitag fertig werden. Will am Samstag zum Baggersee.” Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch hinaus: „Wir Beide könnten nachher in den Biergarten gehen.” Lukas warf den Zigarettenstummel hinaus und schloss das Fenster.
Ein Uhr. Lehmann biss in das Salamibrot und nuschelte kauend: „Muss im Büro noch die Kalkulation für einen Neukunden machen.”
„Ein neuer Kunde.” Lukas pfiff durch die Zähne. „Und der ist gerade durchs Fenster herein geflogen?” Er imitierte mit den Armen das Schlagen von Flügeln.
Walters Gesichtsfarbe wechselte von Rot, wegen der vielen geplatzten Äderchen, zu einem grünlichen Grau: „Ich erbitte mir Respekt”, zischte er, warf seine Brotdose in die Tasche, klemmte sie sich unter den Arm und stand auf: „Nach Feierabend bin ich immer eine Stunde im Büro!”
Lukas stellte sich ihm in den Weg: „Ja, ich weiß. Seit sechsundvierzig Jahren.” Er fasste Walter sanft an beide Oberarme und fixierte dessen flackernden Blick wie ein Habicht, der gleich zuschlagen würde: „Kapiere es endlich! Deine Firma ist längst pleite.”
Walter schüttelte Lukas unsanft ab: „Ach. Was du nicht sagst. Du Schlaumeier. Hatte gerade eben zwei durchaus lukrative Kundenanrufe.” Er wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. „Aber das haste nicht gehört, weil deine Ohren von den Musikstöpseln geschädigt sind.”
„Pah!” Lukas wandte sich abrupt ab, ging wieder zum Fenster und schaute hinaus. Am Himmel zogen Regenwolken auf. „Ein Anruf. Dein Handy liegt wie immer Zuhause auf dem Küchentisch.”

Walters Augen füllten sich mit Tränen. Er zeigte auf den Apparat, der in der Zimmerecke auf dem Boden stand: „Habe diese Nummer hinterlassen, um erreichbar zu sein.”
„Du hast die Anrufe über dieses Telefon erhalten?” Lukas zeigte auf das verstaubte Telefon.

Walter wischte sich die Tränen fort, sammelte den wenigen Speichel in seinem Mund und schluckte wieder einen Kloß im Hals hinunter. Er nickte.
Lukas drehte sich herum: „Paps. Ich habe in meiner Bude noch kein Festnetz freigeschaltet.”


Anne Zeisig, Juli 2010

Letzte Aktualisierung: 20.07.2010 - 19.21 Uhr
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