Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Robert Pfeffer IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Chef | Juli 2010
Das blaue Kreuzchen
von Robert Pfeffer

Lange war ich nicht daheim. Daheim in Halfenbach. In diesem winzigen Nest mit der Bäckerei, die Herrn Becker gehört und der immer darüber schimpft, dass alle seinen Nachnamen verkehrt schreiben. Mit dem Schlachter, der Metzger heißt und der Beckers Namen noch nie falsch geschrieben hat, weil er sowieso nicht schreiben kann. Mit der kleinen Kapelle, in der ein paar verlorene Schäfchen auf dem Land am Sonntag ihre Sünden wegzuwaschen versuchen; und wenn es nicht geklappt hat, laufen sie ins Dorflokal hinüber, das sich bezeichnenderweise „Zum letzten Ausweg“ nennt. Der eigentliche letzte Ausweg aus Halfenbach ist der Bahnhof. Der zweitkleinste der Republik übrigens. Nur in einem anderen Kaff haben sie eine Verbindung am Tag weniger.

Das blaue Kreuzchen ersetzt mir die Baldriantropfen. In der Regionalbahn 21034, zurück auf dem Weg in die große Stadt, ist es mir ein ruhender Pol, das X links oben in der Ecke. Symbol dafür, dass es noch Verlässlichkeit gibt in einer Welt, in der Menschen und Maschinen damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu überholen. Vor fünf Minuten hat das Kreuz seinen Platz auf meiner Fahrkarte gefunden, kurz bevor ich von der höchsten Betonkante Halfenbachs in diesen Zug gestiegen bin. Dass ich die Zugnummer kenne, dass überhaupt so viele Dinge in meinem Leben eine Ordnung haben, verdanke ich Gerwin. Ist er in Gefahr, ziehe ich mit der Kraft des blauen Kreuzchens los, um ihn zu retten.

Letzten Freitag rief mein Vater an. ‚Junge’, sagte er, ‚du musst kommen. Gestern hat es auf dem Bahnhof eine Rangelei gegeben. Jemand hat Gerwin geschubst.’ Was sich für andere Ohren wie ein Zank vom Schulhof anhört, ließ bei mir den Hammer auf den Amboss krachen und fast den Steigbügel brechen. Dass die Leute, die Gerwin nicht kennen, maulen, kommt immer wieder vor. Aber Schubsen? Ich hab gar nicht mehr gefragt, was passiert ist, sondern direkt gesagt, dass ich auf dem Weg bin.

Als der Zug in Halfenbach einrollte, stand Gerwin in seiner typischen Kluft am Bahnsteig. Blauer Anzug, quer über die Brust ein Riemen, an dessen Ende eine Tasche baumelt. Auf dem Kopf die passende Mütze mit schwarzem Plastikschirm. Immer, wenn die Lok einfährt, reckt er seine Kelle mit der roten Seite in die Höhe wie die Freiheitsstatue ihre Fackel. Gerwins Arm aber fällt seitlich in Zeitlupe in eine schräge Starre und mit dem Arm geht auch sein Blick nach unten. Er lugt hinab, achtet peinlich darauf, dass der Zug exakt an seiner Bügelfalte hält. Während er vorne aufpasst, stand ich vorgestern, wie stets, an der dritten Tür. Der Türgriff musste genau auf Höhe des Hydranten auf dem Bahnsteig zum Stehen kommen. Irgendwo daneben bedeutet, dass der Lokführer die Bügelfaltenbremsung verfehlt hat. Ein weithin hörbares Aufstöhnen war ihm sicher. Traf der Mann auf dem Führerstand, wie er soll, gab es hingegen ein wohlwollendes Nicken. Das muss an Lob reichen. Es ist wie oft im Leben, wenn du was gut machst, ist es normal, haust du vorbei, weiß es bald jeder.
Kaum stand der Zug, schallte es über den Bahnsteig: „Halleba ... hier Halleba!“
Mit seinen Sprachfehlern sind ein F, ein N, vor allem aber das CH am Ende unüberwindbare Hindernisse für Gerwin. Also begrüßt er die Fahrgäste mit dem, was er bieten kann. Hat er den Zug gut zum Stehen gebracht, hilft er beim Einsteigen, drückt Türgriffe oder –knöpfe. Ich stieg Freitagabend ohne seine Unterstützung aus und sah ihm zu, wie er mit Inbrunst und Sorgfalt Koffer wuchtete, einer tränennassen Mutter das Taschentuch reichte und ein allzu interessiertes Kind liebevoll einen Meter weiter weg von der Bahnsteigkante platzierte. Dann das große Finale. Züge dürfen in Halfenbach erst abfahren, wenn der Chef des Dorfbahnhofs sein OK in Form der grünen Kellenseite gegeben hat. Verspätung ist nicht hinnehmbar und so zog Gerwin sein steifes linkes Bein so schnell wie möglichhinter sich her und wieder zur Lok. Mit einem Pfiff, der die weiße Linie entlang des Zuges hinunterschießt wie eine Lawine, die ins Tal rollt, entließ er die Wagen aus seinem Hoheitsgebiet. Obwohl er seinen Mund gar nicht ganz schließen kann, hat er seine Technik über Jahre so perfektioniert, dass es Unvorbereitete schon mal ein Trommelfell kostet.

Vom Bahnhof ging ich gleich in den „Letzten Ausweg“.
„Gut, dass du da bist, mein Junge“, begrüßte mein Vater mich.
„Ich hab gelesen, dass sie die Bahnstrecke privatisieren wollen“, sagte Becker.
„Was heißt das eigentlich?“, fragte Metzger.
„Na, dass nicht mehr die Bundesbahn mit ihren Zügen hier vorbeikommt, sondern die ... Moment ...“ Becker zog einen zerknüllten Zettel aus der Hosentasche und glättete ihn auf der Theke. „Also, die heißen Pabblick Tränsport Cooperäischen“, las er unter der Brille durchschielend ab.
„Nie gehört“, blubberte Metzger in sein Bier.
„Das“, ging Pastor Hürter dazwischen, „ist ein neumodisches Unternehmen aus der Hauptstadt. Die kaufen kleine Strecken aus dem Bahnnetz auf, erhöhen dann die Preise. Denen ist auch egal, was anschließend passiert. Wenn die Leute weiter fahren, kassieren sie durch die Tickets ab und halten sich Zugpersonal wie billige Legehennen in der Batterie. Falls die Passagiere ausbleiben, wird die Linie geschlossen und die Heuschrecken machen Gewinn, indem sie alle Einzelteile teuer verkaufen.“
„Hört sich fies an.“ Mehr als vier Worte pro Satz waren bei Metzger selten drin.
Ich fragte in die Runde, ob jemand den Vorfall vom Donnerstagabend mitbekommen hat.
„Ja, war zufällig da, weil ich mit dem Achtzehn-Fuffzehn fahren wollte. Da war ein Anzugträger auf dem Bahnsteig. Hat diese Zettel hier verteilt und gemeint, dass bald alles besser wird. Und als Gerwin ihn kontrollierte, schubste der Heini ihn weg“, berichtete Becker.
„Und was hat Gerwin gemacht?“
„Der hat den Typ angeguckt und einfach noch mal ‚Haka-tee’ gesagt.“
Alle lachten, außer meinem Vater und mir. Gerwin hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Von Geld versteht er nichts, aber wer von A nach B will, braucht Metallplättchen. Und die gehören in diese große Kiste, damit eine Haka-tee rauskommt. Wer keine auf dem Bahnsteig zeigen kann, den fragt Gerwin mit einem zweiten Wort: ‚Ooohin‘, möchte er ohne W wissen. Schließlich fordert er die Münzen von den Leuten, hinkt zum Automaten und kauft ihnen die Haka-tee. Vielleicht muss man sein wie Gerwin, um das Tarifsystem der Bahn zu durchschauen. Er jedenfalls weiß genau, was zu tun ist, wie auch immer er sich das angeeignet hat. Auf alle kontrollierten Papierchen macht er zum Abschluss das blaue Kreuz in die linke obere Ecke. In zwei Dingen bin ich mir sicher: Erstens hat die Bahn noch nie mitbekommen, was Gerwin ganz ohne jeden Arbeitsvertrag für sie leistet. Und wenn es zweitens für Schwarzfahrer eine letzte große Herausforderung in diesem Land gibt, ist sie hier in Halfenbach. Ich wage die Prognose, dass es keiner an Gerwin vorbei schafft. Oder eben doch, falls nämlich dieser Heuschrecken-Vorbote dafür sorgt, dass er demnächst Bahnsteigverbot bekommt.

Ich schaue auf das blaue Kreuzchen auf meinem Fahrschein. Es wärmt mein Herz auf dem Weg von der Heimat zurück in die große Stadt. Gerwin, der letzte Ritter der Bahnsteigkante, kennt mich, ... ja. Und ich ihn. Lange schon. Seit es mich gibt. Ob er weiß, dass ich sein Bruder bin?

Letzte Aktualisierung: 25.07.2010 - 21.50 Uhr
Dieser Text enthält 7382 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.