Schreib-Lust Print
Schreib-Lust Print
Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Harry Michael Liedtke IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Chef | Juli 2010
Niemand ist unverwundbar
von Harry Michael Liedtke

Schade um ihn. Er war so fesch, so süß. Aber er hatte es sich selbst zuzuschreiben. Wie er sie behandelt hatte, war nicht nur unkorrekt, sondern schlichtweg fies gewesen. Hundsgemein und unanständig, und das in voller Absicht. Was ihm jetzt widerfuhr, war das Echo darauf. Sie zahlte nur zurück. Damit hatte er nicht gerechnet. Unangreifbar hatte er sich gewähnt in seiner Eigenschaft als Big Boss. Typisch Mann. Aber keine Führungsposition ist so einflussreich und bedeutend, dass man es sich leisten kann, seine direkten Untergebenen zu verprellen. Wenn jemand die Schwächen des Anführers kennt, dann die Leute aus seinem engsten Mitarbeiterkreis. Niemand ist unverwundbar. So weit oben kann man gar nicht thronen, als dass man nicht wieder heruntergeholt werden könnte. Man muss sich als abhängig Beschäftigter nur mal trauen, dann kann es sehr schnell gehen mit dem Abstieg des untragbar gewordenen Gebieters. Dr. Hagen Bernauer zum Beispiel befand sich gerade im freien Fall, und sein Aufschlag würde heute erfolgen. Es konnte sich bloß noch um Minuten handeln.
Simone Marin war zwar auf Rache aus, aber sie verspürte auch Bedauern. Als sie vor knapp anderthalb Jahren Dr. Bernauer als persönliche Sekretärin zugeteilt worden war, hatte sie gedacht, sie hätte das große Los gezogen. Ein verantwortungsvoller Job, eine Gehaltsaufstockung und ein netter, höflicher Chef – in ihrer Einarbeitungsphase hatte sie noch den Göttern für ihr Glück gedankt. Doch nach drei rosaroten Wochen war bereits Schluss mit lustig gewesen. Ihr erster Anschiss hatte sie unsanft in der harten Realität ankommen lassen.
Bernauer hatte sich als launischer Zeitgenosse entpuppt, oft ungerecht, gern herabsetzend und ungemein cholerisch. Ein Wichtigtuer war er, ein Faktenverdreher, ein Zankteufel vor dem Herrn. Wenn etwas daneben ging, waren grundsätzlich die anderen schuld. Dabei machte er selbst die meisten und auch die schlimmsten Fehler. Aber das zählte nicht. Die Verantwortung für Irrtümer und Missgeschicke wurde von ihm geschickt abgewälzt. In der Regel nach unten. Oft zu ihr. Dann ging das Schreien los. Und wie! Darin war er ein Meister. Die rüdesten Schleifer beim Militär hätten bei ihm noch in die Lehre gehen können. Simone konnte schon nicht mehr zählen, wie oft er sie mit seinem unflätigen Gezeter an den Rand der Tränen und darüber hinaus gebracht hatte. Zu Anfang, jaaaa, da hatte er sich wie ein echter Gentleman benommen. Die Freundlichkeit in Person war er gewesen. „Machen Sie mir doch bitte einen Kaffee, Fräulein Marin. Und genehmigen Sie sich auch ein Tässchen.“ Gezirpt wie ein Rotkehlchen hatte er damals, und das nicht bloß, wenn er was wollte! Hach ja ... Sie hatte sich sogar ein bisschen in ihn verschossen. Er sah ja auch blendend aus mit seiner drahtigen Figur und den graumelierten Schläfen. „Meine Hübsche“, hatte er sie oft genannt. Heute war sie bloß noch „die blöde Fledermaus aus dem Vorzimmer“. Direkt daneben hatte sie gestanden, als sie von ihm so gemein betitelt worden war. Vor der gesamten Führungsriege der Firma hatte er sie runtergeputzt. Mit einem Grinsen, das sich in Sachen Überheblichkeit unmöglich überbieten ließ.
„Na warte“, hatte sie sich gedacht, „Fledermäuse haben Krallen, und meine wirst du spüren.“ Alle anderen Gemeinheiten hatte sie hingenommen, ohne sich zu beklagen: ungerechtfertigte Vorhaltungen wegen verklüngelter Akten, Schmähungen in Bezug auf ihr unscheinbares Äußeres, sein Machogehabe, frivole Scherze, die vielen erzwungenen Überstunden, verweigerte Urlaubstage und und und ... Nicht etwa aus Angst hatte sie gekuscht, o nein, sie hatte lange Zeit alles still geduldet, weil er für sie nach wie vor ein toller Hecht gewesen war. Sein ekliges Verhalten hatte sie seinem Riesenstress zugeschrieben – und verziehen. Heute schalt sie sich dafür eine dumme Kuh. Erst die Bloßstellung auf der Chefetage hatte ihr die Augen geöffnet. Und zwar weit!
Fortan war Dienst nach Vorschrift ihre Maxime gewesen. Nix mehr mit Überstunden. Um Punkt vier war ihr Arbeitstag seither beendet. Auf die Minute! Grundgütiger, was hatte das für Schimpfkanonaden zur Folge gehabt. Aber sie hatte sich nicht mehr einschüchtern lassen. Im Gegenteil! Sie hatte begonnen, ihn schlecht aussehen zu lassen. Es erforderte nicht viel detektivische Vorarbeit, um Bernauers Achillesfersen zu erkennen, und kaum Mühe, die gewünschten verfänglichen Situationen zu arrangieren.
Es war fast zu einfach. Zudem hatte sie ja nichts zu verlieren außer einem Job, der sie krank machte. Wenn man sie eh schon für Verfehlungen fertigmachte, die sie nicht zu verantworten hatte, dann konnte sie diese Schnitzer auch tatsächlich begehen. Sie gab Bernauer falsche Aktenordner mit, wenn er in wichtige Sitzungen ging. Sie unterrichtete ihn über dringende Termine auf den letzten Drücker. Telefonate leitete sie des Öfteren nicht weiter. Natürlich durfte sie bei diesen Aktionen, die direkt in den Arbeitsablauf eingriffen, nicht übertreiben. Hätte sie es zu toll getrieben, wäre rasch erkannt worden, dass sie die Störungsverursacherin war. Ferner hatten ihre Nadelstiche die Haut des Elefanten bestenfalls leicht irritiert, Bernauers Arroganz war durch all dies nicht schwächer geworden. Also hatte sie ihre Taktik verändert. Ihre Attacken waren härter geworden, ihre Sabotageakte persönlicher. Seine E-Mail-Postfächer flutete sie mit Spam. Sie sorgte dafür, dass sein Drucker ständig funktionsunfähig war. Mittels eines anonymen Briefes hetzte sie ihm das Finanzamt auf den Hals. Sie streute üble Gerüchte wie etwa, dass ihr Chef ein Alkoholproblem oder eine Geschlechtskrankheit habe. Sie zerstach gar die Reifen seiner Nobelkarosse.
Bei all dem hatte sie nicht die Spur von Unrechtsbewusstsein. Schließlich war sie das Opfer. Sie wehrte sich nur. Sie steigerte sich sogar regelrecht in ihren Revanchismus hinein. Ihre hilflose Wut wandelte sich in grimmige Euphorie. Fast wünschte sie sich weitere Bodenlosigkeiten Bernauers, damit sie Gründe für Vergeltungsmaßnahmen hatte. Und die kamen! Bernauer wurde immer unerträglicher. So schaukelten sie sich gegenseitig hoch, er unbewusst, sie vorsätzlich. Jede gelungene Aktion brachte sie in Hochstimmung. Ihr Belohnungszentrum im Gehirn kam mit der Sendung positiver Signale gar nicht mehr hinterher. Bald rauschten die Glückshormone nur so durch ihren Körper. Herrlich!
Dann kam die Mordsgelegenheit für den Todesstoß. Schade eigentlich, dass der Kampf nun zu Ende ging. Sie hatte das Gefühl wachsender Stärke so genossen. Aber man muss auch loslassen können. Eine außerordentlich wichtige Geschäftspräsentation stand an. Der Auftrag, um den es dabei ging, durfte auf gar keinen Fall versaubeutelt werden. Für Bernauer die große Chance, sich zu rehabilitieren und in den höchsten Führungszirkel zurückzukatapultieren, nachdem es in den letzten Monaten so viel Trash-Talk um ihn gegeben hatte wegen der überhand nehmenden Pannen in seinem Verantwortungsbereich. Allerdings war der Vortrag auch seine letzte Chance. Für ihn galt: Alles gewinnen oder alles verlieren! Simone wusste bereits jetzt, wie die Sache ausgehen würde. Des ungeachtet wartete sie gespannt. Sie hatte noch nie das Gesicht einer lebendigen Leiche gesehen.
Sie feilte sich gerade in bester Sekretärinnenmanier die Nägel, als die Tür zu ihrem Vorzimmer aufgestoßen wurde. Bernauer trat ein und taumelte direkt durch in sein Büro. Wortlos, totenbleich, vor Schweiß triefend, mit pfeifendem Atem und glasigen Augen! Wow, das war ja besser gelaufen als gehofft. Die interaktive Folienpräsentation, die Bernauer im Rahmen des Superdeals auf einer Konferenz aller Gesellschafter durchführen sollte, hatte sie mit falschen Geschäftszahlen unterfüttert. Dem Aussehen ihres Herrn und Meisters nach war das tolle Geschäft wohl geplatzt. Und Bernie gleich mit. Bumm!
Ein bisschen tat er ihr trotz allem Leid. Sie war ja schließlich nicht aus Stein. Unmittelbar vor der Konferenz hatte sie sogar ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, den Tagungssaal zu stürmen und ihrem Chef doch noch im letzten Moment das korrekte Datenmaterial zukommen zu lassen. Aber dann waren ihr all die Demütigungen durch den Kopf geschossen, und sie war standhaft geblieben. Nein, fürwahr, Bernie war fällig gewesen. Er hatte seine Erniedrigung verdient. Was wohl nun mit ihm geschehen würde? Nun, seine Position war zu hoch gewesen, als dass es Bernauer beschieden war, wie ein gewöhnlicher Sterblicher beim Arbeitsamt in der Schlange würde stehen zu müssen. Aber er war jetzt eben keine Führungskraft mehr. Wenn er nicht von sich aus seine Kündigung einreichte, würde ihm der Unternehmensvorstand einfache jegliche Verantwortung und alle Verpflichtungen nehmen. Dann durfte Bernie in der Firma bloß noch seine Zeit bis zur Rente absitzen – ohne Weisungsbefugnis, ohne Einfluss und ohne Aufgaben. Zu dem Gefühl der bloßen Duldung würde sich die Häme des Kollegiums gesellen und sein Selbstverständnis als Macher vollständig den Bach runtergehen. Den gesamten Arbeitstag über nur gähnende Langeweile spüren, das würde Bernie nie und nimmer durchstehen. Dafür dirigierte er zu gern. Simone war sich ziemlich sicher, dass der Mann, der gegenwärtig ganz entgegen seiner Art keinen Mucks von sich gab, in absehbarer Zeit ihr Ex-Boss sein würde. So long, Mistkerl!
Wer wohl ihr nächster Chef werden würde? Simone spekulierte auf Dr. Klaas. Ja, der würde ihr gefallen. Nach allem, was man so hörte, sollte er ein fairer Vorgesetzter sein und von seinen Untergebenen keine Unmöglichkeiten verlangen. Aber eigentlich war ihr jeder recht, der sich nicht so grässlich danebenbenahm wie Bernie. Hauptsache, sie wurde freundlich und mit Wertschätzung behandelt, und das nicht bloß in den ersten Wochen. Und sollte sich herausstellen, dass ihr neuer Boss auch nur wieder so ein Spinner war, der glaubte, es sei schon Motivation genug, wenn er einmal im Jahr zur Weihnachtsfeier eine Flasche Prosecco spendierte, nun, sie war kampferfahren und gut gerüstet. Dann würde eben bald der nächste Potentatenkopf rollen.

Letzte Aktualisierung: 11.07.2010 - 15.01 Uhr
Dieser Text enthält 10169 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.