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Chef | Juli 2010

Ungewöhnliche Freundschaft
von Ingo Pietsch

Marina war mit ihren Eltern schon früh morgens losgefahren, um der Mittagshitze zu entgehen. Sie kamen bei den Großeltern an, bevor die Sonne fast senkrecht am Himmel stand.
Das kleine reetgedeckte Häuschen stand einen Steinwurf vom Strand entfernt hinter schützenden Dünen. Vom Dachfenster konnte man das Meer erblicken. Das Grundstück war mit einem weißen Holzzaun eingegrenzt, der aber eher der Verschönerung diente, denn das nächste Haus befand sich in einiger Entfernung.
Gleich nachdem sie angekommen waren, stürmte Marina zu ihrer Großmutter und umarmte sie.
Die Zwölfjährige wollte gleich ans Meer.
„Aber denke dran: Ich rufe dich zum Mittagsessen und geh nicht allein ins Meer!“ ,mahnte ihre Oma.
Das Essen würde noch ein bisschen dauern, da der Großvater in den Ort gefahren war, um frischen Fisch zu holen.
Die Eltern beobachteten, wie Marina in den Dünen verschwand.

Marina war froh, von ihren Eltern wegzukommen. Sie hatten sich die ganze Autofahrt über angeschwiegen.
Abends, wenn ihr Vater von der Arbeit nach Hause kam und sie dachten, dass sie schlief, brüllten sie sich an.
Die Zwölfjährige wusste, dass ihr Vater bald ausziehen würde und war deshalb sehr traurig. Sie hatte beide gleich lieb und hatte Angst davor, sich für einen von beiden entscheiden zu müssen. Sie wollte auch ihre Freunde nicht verlieren, wenn sie wegziehen müsste oder sie ihre andere Oma nicht mehr wiedersehen würde.
Marina saß im warmen Sand und hatte ihre Füße ins Wasser gestreckt. Die Sonne reflektierte sich im Wasser und blendete sie. Trotzdem konnte sie am Horizont ein Segelboot erkennen.
Angenehmer Wind umspielte sie und sie vergrub ihre Hände im Sand.
Marina wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, als ihre Großmutter sie rief.
Aber sie war nicht traurig diesen schönen Ort zu verlassen, denn sie würde noch die ganzen Sommerferien alleine bei ihren Großeltern hier an der Ostsee verbringen.

Jeden Abend saß Marina am Strand bis es dunkel wurde und genoss die Ruhe, die sie in der Großstadt nicht hatte.
Ihre Großeltern unternahmen alles Mögliche mit ihr: Fahrradtouren, sie gingen zusammen ins Schifffahrtsmuseum oder zur Minigolfbahn im Kurort.
Marina war nie langweilig und fühlte sich hier wohl.

Eines Abends setzte sich der Großvater zu ihr.
Nach langem Schweigen fragte er: „Vermisst du deine Eltern?“
Marina schaute aufs Meer hinaus und entgegnete: „Ich will nicht, dass sie sich streiten!“
„Mhm“ ,machte ihr Opa und legte einen Arm um sie. „Weißt du Marina, manchmal verstehen sich zwei Menschen irgendwann nicht mehr. Aber du kannst dir sicher sein, dass deine Eltern dich lieben.“
Marina schluchzte: „Danke, Opa.“
Nach einiger Zeit sagte er: „Kommst du mit nach Hause?“
„Nein, ich möchte noch eine Weile hier sitzen bleiben.“
Ihr Großvater fand sie in diesem Moment reifer, als sie in diesem Alter eigentlich sein sollte. Er stand auf, strich ihr über den Rücken und ging.
Marina erspähte zwischen den Wellen etwas Braunes, dass direkt auf sie zukam. Sie hielt es für ein Stück Holz, doch dann erkannte sie zwei dunkle Augen. Sie wich zurück und krabbelte rückwärts vom Wasser weg.
Das Tier entpuppte sich als Seehund. Mit einem großen Satz sprang er ihr vor die Füße.
Marinas Herz klopfte vor Aufregung.
Der Seehund bellte sie in seiner Sprache an.
Er schien freundlich zu sein und sie berührte seine Schnauze. Er ließ es sich gefallen, gestreichelt zu werden und leckte ihre Hand ab.
„Ich heiße Marina. Und wie heißt du?“
Der Seehund schloss die Augen und holte tief Luft.
Mit einem lauten „Tscheff“ nieste er ihr ins Gesicht.
„Uah!“ Marina schaute angewidert.
Der Seehund schlabberte ihr Gesicht mit seiner Zunge ab.
„Igitt, lass das!“ Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und sagte: „Ich werde dich `Chef` nennen! So hast du dich vorgestellt.“
Es begann schon zu dämmern.
„Ich muss los. Aber wenn du morgen wieder da bist, bringe ich dir etwas mit.“
Sie winkte ihm und er erwiderte den Abschiedsgruß.

Marinas Großeltern warteten schon in der Küche auf sie.
Oma stand am Herd und rührte in Töpfen und ihr Opa saß am Tisch und las in der Zeitung.
Marina war ganz aufgeregt und wollte schon von ihrem neuen Freund erzählen, als der Großvater aus dem Artikel zitierte, den er gerade las: „…wurde das braune Tier wieder am Strand gesehen, als es gestern Abend einen Jogger in der Nähe des Campingplatzes anfiel. Der Sportler kam mit dem Schrecken davon, als das Tier aus dem Wasser auf ihn zustürzte. Es streifte ihn und riss mit seinen Zähnen ein Stück Stoff aus der Hose. Wahrscheinlich handelt es sich um einen tollwütigen Seehund, der sich an unsere Küste verirrt hat.“
Der Großvater legte die Zeitung zur Seite und schaute seine Enkelin an, der die Tränen in den Augen standen.
Ihre Oma sprach sie an: „Marina, was ist denn mit dir?“
Ohne zu antworten lief Marina weinend in ihr Zimmer.
Oma wollte ihr folgen, aber Opa hielt sie auf: „Lass sie nur. Die Trennung ihrer Eltern macht ihr schwer zu schaffen.“

Marina hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und Tränen liefen über ihr Gesicht. Jetzt hatte sie einen Freund gefunden und dann war er auch noch gefährlich. Sie konnte nicht glauben, dass „ihr Chef“ jemanden verletzen konnte.
Morgen Abend wollte sie wieder an den Strand, egal ob der Seehund lieb oder böse war.

Der Großvater hatte Marina ernsthaft klar gemacht, dass auf keinen Fall alleine zum Strand gehen sollte.
Sie waren zu dritt zu dem nahegelegenen Wasserpark geradelt und hatten dort den ganzen Tag verbracht.
Als sie zurück kamen, brachte Großvater die Fahrräder in den Schuppen und die Großmutter hängte die nasse Wäsche auf.
Marina gab vor, schaukeln zu wollen, schlich sich dann aber, als niemand auf sie achtete ins Haus und stahl ein Stück Fisch aus dem Kühlschrank. In einem Gefrierbeutel schmuggelte sie das Leckerli an den Großeltern vorbei.
Die Sonne berührte schon den Horizont, als sie am Wasser ankam. Sie musste nicht lange warten, bis Chef kam.
Er bellte sie freudig an und sie gab ihm den Fisch. Er schnupperte in der Tüte und wollte noch mehr. Er roch auch an ihren Händen und steckte seine Nase sogar in ihre Hosentaschen.
Da der Seehund sie mit seiner Schnauze überall kitzelte, kringelte sich Marina vor lachen. Zum Spaß kämpften die beiden miteinander, bis Marina die Luft ausging. Erschöpft fiel sie in den Sand und streckte alle Viere von sich. Der Seehund sah sie verwundert an. Dann fing er an zu klatschen.
„Nein, ich kann nicht mehr!“ Doch wieder stupste sie der Seehund.
In dem Moment kam ihr Großvater an den Strand.
Er glaubte zu sehen wie das Tier seine Enkelin angriff.
„Marina!“ rief er erschrocken und rannte auf sie zu. Er breitete die Arme aus und wollte den Seehund so verscheuchen.
Das Tier wich zurück und der Großvater zog seine Enkelin vom Wasser weg hin zu den Dünen.
Sie wollte sich aus der Umklammerung reißen. Doch ihr Opa hielt sie fest und sagte ganz ruhig: „Marina, das Tier ist gefährlich. Komm jetzt bitte mit.“
„Chef ist nicht gefährlich, es ist ganz lieb.“ Die Zwölfjährige schlüpfte aus seinem Griff und rannte zum Ufer zurück.
Der Seehund schwamm schon wieder ein gutes Stück weit im Meer.
Plötzlich spritzte eine Wasserfontäne neben Marina hoch und überschüttete sie.
Ein großer, zotteliger Hund schritt langsam auf sie zu und fletschte die Zähne. Seine langen braunen Haare trieften vor Wasser und er war so auf sein Opfer fixiert, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, sein schweres Fell auszuschütteln.
Der Großvater stand wie gelähmt da. So einen grimmig aussehenden Hund hatte er noch nie gesehen.
Der Mischlingshund war groß wie eine ausgewachsene Dogge. Algenreste hingen in seinen verfilzten Haaren und ein Auge des wütenden Gesichts war blind.
Der Hund kam näher.
Marina zitterte am ganzen Körper.
Der Großvater fand vor sich ein paar Steine und warf sie nach dem Hund, um ihn abzulenken.
„Komm her du widerlicher Köter!“ schrie er.
Das Tier sah zu ihm hinüber und zuckte nicht einmal, als ein Stein ihn am Kopf traf. Aber nach mehrmaligem Treffen änderte der Hund seine Angriffsrichtung zum Großvater hin.
„Marina! Geh vorsichtig zu den Dünen hin!“
Marina nickte und schritt rückwärts los. Dann stolperte sie und fiel rücklings in den Sand.
Der Monster-Hund fixierte wieder Marina. Mit einem Satz sprang er auf das am Boden liegende Mädchen zu.
Marina verschränkte die Arme vor ihrem Gesicht.
Sie hörte nur noch ihren Großvater schreien: „Nein!!!“
Durch ihre verschränkten Arme hindurch konnte sie sehen, wie der Körper des Tieres auf sie zuflog. Aber der Aufprall blieb aus und der Angreifer wurde von dem Seehund zur Seite gerissen.
Die beiden ungleichen Hunde keilten miteinander. Sie bissen sich gegenseitig und der Sand färbte sich rot.
Der Großvater eilte herbei und nahm seine Enkelin auf und trug sie so schnell wie möglich nach hause.
Hinter sich hörten sie die beiden Tiere sich anknurren und bellen.

Daheim versorgte die Großmutter die frierende Marina. Der Großvater rief die Polizei. Dann holte er eine Mistgabel und ging zurück an den Strand.
Beide Tiere lagen blutend im Sand. Sie atmeten noch. Der zottelige Hund allerdings schien die größeren Wunden zu haben. Er röchelte und war zu keiner Bewegung mehr fähig, während der Seehund noch den Kopf heben konnte und freudig bellte.
Die Polizei konnte das gefährliche Tier, das schon mehrere Menschen angefallen hatte, nur noch von seinen Qualen erlösen.
Chef wurde in den Ort gebracht, wo man den verirrten Seehund gesund pflegte. Als Held bekam er eine neue Heimat im Wasserpark.
Marina besuchte Chef jeden Tag der restlichen Ferien und die Freundschaft mit dem Seehund half ihr ein bisschen, um mit der Trennung ihrer Eltern besser fertig zu werden.

Letzte Aktualisierung: 22.07.2010 - 12.33 Uhr
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