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Chef | Juli 2010

Zuerst und jetzt
von Johanna Sibera

Zuerst: Fünfzehn Jahre lang hatte ich mich förmlich verborgen hinter den gepolsterten Doppeltüren einer gut gehenden Rechtsanwaltskanzlei. Die Nüchternheit meiner Arbeit war für mich sehr wohltuend – für jede Greueltat und jede Riesenkrida, für jeden Ärger, und sei er nur zugefügt von einem boshaften Nachbarn, für jede noch so hässliche Untat im Verlauf mühsamster Scheidungsprozesse gibt es die trockene Würde eines Paragrafen. Das hat etwas Tröstliches und ich habe viel dadurch gelernt. Aber dennoch weiß ich es genau: Wäre nicht Doktor Thorwald mein Boss gewesen, hätte ich es sicher nicht so lange in der Kanzlei ausgehalten. Dann wäre ich wohl schon vor Jahren Tierpflegerin geworden, eine natürlich wesentlich schlechter bezahlte Arbeit als mein schicker Job in der Wiener City, aber eindeutig mein heimlicher Traumberuf. Also lag es zu einem ganz großen Teil an Doktor Thorwald, dass ich immer noch Anwaltsangestellte war. Dabei kann ich gar nicht genau erklären, was er an sich hatte, dass man sich in seiner Gegenwart immer irgendwie wohl fühlte, auch wenn die Telefone ununterbrochen klingelten, hunderte Seiten Verträge geschrieben werden mussten und die sofort zu beantwortenden E-Mails nur so aus den Computern quollen, kurz gesagt, wenn einem die Arbeit über den Kopf zu wachsen drohte - wie es in unserem Büro eigentlich immer der Fall war. Und wenn mir irgendwer die Frage stellte, welche Eigenschaften denn einen guten Chef ausmachten, kam ich stets in die ärgste Verlegenheit. Ich konnte es einfach nicht erklären, konnte nur ganz fantasielos den Namen von Doktor Thorwald nennen und darauf hinweisen, dass man ihn kennen lernen sollte, dann hätte man die Frage nach tollen Chefqualitäten zufriedenstellend beantwortet.

Auch meine Kollegin Natalie mochte ihn. Und die Tatsache, dass wir beide relativ junge Frauen waren, spielte bei diesen gegenseitigen reichen Sympathien überhaupt keine Rolle. Unseren kleinen und nicht gerade überdurchschnittlich intelligenten Konzipienten behandelte er mit derselben – ich muss jetzt tatsächlich etwas kitschig werden – Güte und Gerechtigkeit wie uns.

Dann, an diesem Montag im Juli, Doktor Thorwalds Herzattacke. Meine Welt brach ein. Eine Nacht lang bewegte sich sein Zustand knapp unter der alles nivellierenden Flat Line, dann ein unvorhergesehenes rasches Erholen. Sehr bald schon wollte er im Krankenhaus arbeiten, Natalie und ich besuchten ihn dort abwechselnd und brachten ihm vorsichtig Akten und schließlich sein Tonbandgerät. So gut es nur ging führten wir mit einem Substituten den Kanzleibetrieb fort. In Doktor Thorwalds Arbeitszimmer türmte sich unerledigte Post und neben seinem Schreibtisch standen seine beiden Aktenkoffer, wie verlassene Hunde, mit denen niemand spazieren gehen mag.

Dann war er wieder da, als sei er niemals fort gewesen. Er sollte sich schonen, sagten ihm seine Ärzte; aber wer das sagt, hat noch nie den Betrieb in einer Anwaltskanzlei kennen gelernt und weiß nicht, wie hoch es dort hergeht und dass das Wort Schonung im Zusammenhang mit diesem Job nichts anderes als ein Witz sein kann.

Und jetzt: Vorige Woche habe ich mir braune Jeans gekauft, die sofort gepasst haben, das ist eher selten bei mir, und in einem Schaufenster habe ich ein eierschalenfarbenes Lederhemd entdeckt, in dem ich mich so richtig gut selbst schon sehen kann, zusammen mit den neuen Jeans. An einem Mittwoch zu Mittag gehe ich los, aber ich finde das Geschäft nicht mehr; mittlerweile hat es zu regnen begonnen und ein scharfer Wind fährt um die Ecken. Es ist viel kälter als sonst Ende September. Inzwischen habe ich den Spaß daran verloren, das Lederhemd zu besorgen und gehe zurück, suche den Schlüssel, sperre auf. Natalie steht in unserer Teeküche, sie ist weiß wie die Wand hinter ihrem blonden Kopf, die Sommersprossen auf ihrer derben kleinen Nase treten dadurch überdeutlich hervor, graubraune Schattenpunkte, deren Abbild sich wie ein scharfes Fleckenmuster in meine Netzhaut einbrennt. Ein schwerer Schmerz stürzt in mir vom Kopf bis in die Knie hinab, und ich weiß, dass ich die nächsten hundert Jahre keine Lust auf ein eierschalenfarbenes Lederhemd mehr haben werde.

„Es war eine schnurgerade Straße, gute Sicht, kein Regen, nichts. Seine Frau hat den Wagen gefahren“. Natalie sagt diese beiden Sätze immer wieder am Telefon, in den nächsten Tagen, Wochen; dann wissen es schon viele, später fast alle. Der Notar, den er gut gekannt hat, ein Schulfreund, hat es übernommen, die Verlassenschaft zu regeln. Er sitzt in Dr. Thorwalds Zimmer und ordnet und ordnet, ein kleiner, blasser, blonder Mann, der sowieso immer ein bisschen bekümmert wirkt. Manchmal gehe ich hinein, weil ich es einfach nicht glauben kann, öffne die Türe vorsichtig oder reiße sie spontan auf, aber es nützt beides nichts, er ist immer noch da und mein Chef ist immer noch tot. Ich will nicht zum Telefon gehen, ich lasse Natalie das machen oder das Mädchen, das seit zwei Monaten hier als Azubi beschäftigt ist, ich will hier nichts mehr tun. Eine schnurgerade Straße, ohne mühsame oder gefährlich wirkende Kurven, auf dem Weg nach Innsbruck. Seine Frau hat den Wagen gefahren, Doktor Thorwald saß neben ihr, er hat die Verhandlung vorbereitet, zu der sie unterwegs waren. Ein entgegenkommendes Auto, das plötzlich auf ihrer Seite war, unausweichlich. Alle, auch der Fahrer des anderen Wagens, sind selbst ausgestiegen, zuerst hatte es gar nicht so schlimm ausgesehen. Seine Frau hat einen gebrochenen Arm, das ist ja eigentlich nichts, Doktor Thorwald selbst hat ganz unversehrt gewirkt, war offensichtlich nur mit dem Brustkorb auf den geöffneten Airbag aufgeprallt. Man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht, wo er noch Scherze gemacht hat, er hätte das Gefühl, am ganzen Körper ein einziger blauer Fleck zu sein. Dann plötzlich, nach unauffälligen Stunden, dramatische Veränderungen, ein kompletter Verfall, ein Tod sozusagen ganz en passant; schwerere innere Verletzungen als ursprünglich angenommen. Angeblich haben die Blutverdünner, die er seiner Herzkrankheit wegen genommen hat, dazu beigetragen. Er wurde noch operiert, wo? Es ist nicht mehr interessant. Der unscheinbare Notar, der die Verlassenschaft regelt, will dieses und jenes von mir, Aktenordner und Dateien, voll mit Zahlen. Ich helfe ihm, muss ich ja. Einmal ist seine Frau da, androgyn wirkend, fast unheimlich blass; sie ist in Schwarz, der Gips am linken Arm leuchtet sauber und höhnisch. Seine Kinder sind auch mit gekommen, ich habe nicht gewusst, dass sie schon so groß sind, vermutlich macht das die ernsthafte Kleidung. Sie holen Sachen ab, seine Frau telefoniert und muss mit dem kleinen traurigen Notar sehr viel besprechen, es kommt Ordnung in diese Verlassenschaft. Irgendwer wird das Büro übernehmen, ein anderer Anwalt oder eine Kanzleigemeinschaft.

Ich werde es nicht mehr wissen. Ich bin gestern im Tierheim gewesen, wo man immer Leute zur Arbeit sucht. Ich war zu Fuß unterwegs, lange habe ich das nicht mehr gemacht. Meine kleine Heimatstadt, von der ich jeden Tag als eine der unzähligen Pendlerinnen zu meinem Arbeitsplatz in die City gefahren bin, hat sich in letzter Zeit sehr verändert, allerorten wurde gebaut, Wiesen und Schrebergärten sind Villen und Wochenendhäusern gewichen. Das Tierheim liegt ein wenig verborgen hinter einem kleinen Wald. Ein Schotterweg führt zu einem Holzgatter, dahinter stehen die drei schmalen Gebäude aus rohem Ziegel.

Ein Polarfuchs sitzt in einem Stall gleich beim Eingang und schaut ein wenig ratlos. Er hat ein blaues und ein braunes Auge und ein viel zu dickes Fell für die Jahreszeit, denke ich, auch wenn der Herbst schon ziemlich kalt ist. Ich werde ihn noch näher kennenlernen, den kleinen Kerl mit seinen verschiedenfarbigen Augen, ganz intensiv will ich mich mit ihm beschäftigen, denn ab nächster Woche werde ich hier arbeiten.

Letzte Aktualisierung: 03.07.2010 - 14.36 Uhr
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