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Chef | Juli 2010

Lebenswandel
von Nicole Müller

Ich geh in die Küche, nehme eine Kaffeetasse aus dem Schrank und empfinde plötzliches Mitleid für meinen Chef. Sicherlich habe ich kein Verständnis für seine Arbeitsmoral, die ihn heute mal wieder zu spät kommen lässt. Doch alles was er anfasst, scheint daneben zu gehen und seine Unbeholfenheit im Umgang mit der Firma spiegelt sich in der Auftragslage wieder. Ich kann verstehen, dass er es nicht leicht hatte, denn immerhin wurde er nie gefragt, ob er diesen Job machen möchte. Sein Vater meinte es sicher immer gut mit ihm, aber er setzte sein Hänschen immer unter Druck, so hatte Hänschen gar keine Wahl.
Mit meinen Gedanken beschäftigt, setze ich mich mit dem Kaffeebecher in der Hand an den Schreibtisch und fertige die wenigen Rechnungen für unsere Kunden an. Damals hielt mich das Telefon häufig davon ab und nun habe ich den Eindruck gewonnen, dass es eine Art gut bezahlte Beschäftigungstherapie für mich ist. Diese brachte mich irgendwann dazu, das Büro und die Küche zu putzen. Klar, dass Hänschen es gut fand und meine Langweile die Putzfrau die Stelle gekostet hatte.
Leider war sie nicht die Einzige, die ich mit verabschieden durfte. Ich erinnere mich gerne an die Zeiten, wo hier noch richtig Leben in der Bude war. Ich trauere heute noch um Erhard Erlenbach, Hänschens Vater. Er war immer mit Leib und Seele dabei und hat seinen Laden gepflegt. Ich an seiner Stelle, hätte jemanden eingestellt. Aber Erhard war sicher, sein Sohn schaffe das.
„Guten Morgen Frau Homberg.“ Hänschen betritt mal wieder mit einem gequältem Lächeln das Büro: „Sie treue Seele sind aber wieder früh hier.“
„Guten Morgen, Herr Erlenbach. Soll ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?“
Er nickt und verschwindet in seinem Büro, indem plötzlich die gewohnte Ruhe durch das Klingeln seines Telefons gestört wird. ‚Jetzt bedienst du den Herrn schon wieder‘, ermahne ich mich, als ich ihm den Kaffee zubereite. ‚Kommt zu spät, kümmert sich um nichts und was ist, wenn es jetzt so weiter geht? Wie schnell rote Zahlen entstehen hast du zu genüge gesehen. Du bist fünfunddreißig Jahre und bist auf den Job angewiesen. Deine Rücklagen bringen dich bestimmt nicht bis zur Rente. Und welche Chancen du auf dem Arbeitsmarkt mit der Konkurrenz hast, sollte dir klar sein. Du bist kein Hans im Glück und kriegst nicht alles vor die Füße gelegt! Oh ja, es ist die Zeit, Hänschen die Meinung zu sagen! ‘

Schwungvoll betrete ich ohne anzuklopfen mit derer Kaffetasse in der Hand sein Büro. Er telefoniert noch, daher bleibe ich dreist als Zuhörerin vor ihm stehen und beiße mir auf die Lippen.
Weiter mit meinen Gedanken beschäftigt und dem Vorsatz, ihm die Meinung zu sagen, beobachte ich wie er kleinlaut nickt:“Ja, ich verstehe. - Da kann man wohl nichts machen. Ok, danke. Bis bald.“
Ich hoffte, er hätte einen neuen Kunden an der Angel, aber seinen jetzigen Gesichtsausdruck kenne ich zu gut. Er schaut mich mit einem mitleidigen Lächeln an: „Frau Homberg, setzen Sie sich, ich muss mit Ihnen reden.“
Ich will mich jetzt nicht zu ihm setzen. Ich hatte doch gerade erst andere Pläne gemacht!
„Ich muss noch einige Rechnungen tippen“, rutscht es über meine Lippen und ärgere mich gleichzeitig über diese ungeschickte Antwort. Wie kann ich nur so blöd sein gerade die Rechnungen vorzuschieben!
„Die können warten. Bitte!“, reagiert er prompt.
Ich verliere die Kontrolle über meinen Körper und versinke im Polster des alten Sessels. Während ich auf der Suche nach meiner Körperbeherrschung bin, fährt er fort:
„Frau Homberg, Sie waren mir jahrelang eine gute Mitarbeiterin!“
Er räuspert sich, rauft sich mit der linken Hand sein lichtes Haar, während er mit der rechten Hand Fingerakrobatik mit einem Kugelschreiber veranstaltet, die mich nervös macht. Ich koche innerlich. Ich wollte ihm doch die Meinung sagen! Er räuspert sich nochmal.
„Ich weiß Sie wirklich zu schätzen. Aber, -“
„Am Telefon war mein Steuerberater. Sie wissen, er war mal ein guter Freund meines Vaters.-“
„Ich kenne Herrn Brauer seit dreizehn Jahren.“
„Oh, ja klar“, fährt Herr Erlenbach fort. „Also, Herr Brauer klärte mich darüber auf, dass ich Sie als Vollzeitkraft nicht mehr beschäftigen kann. Sie wissen, wie viel hier im Büro noch an Arbeit anfällt. Ich bin gezwungen, Ihnen einen Mini-Job anzubieten, um Sie als Angestellte halten zu können.“
Ich will schreien und bekomme lediglich ein gepiepstes „Ja“ über meine Lippen.
„Gut“, meint Hänschen. „Bin ich froh, dass wir das geklärt haben. Ich schlage vor, dass Sie heute erst mal frei nehmen. Die Stundenreduzierung besprechen wir dann morgen“
„Ja, danke“, flutscht es aus meinem Mund. Ich stehe auf, schwebe um den Schreibtisch, schalte den PC aus, hole meine Jacke und Tasche und sitze plötzlich in meinem Auto.

Jahrelang habe ich Hänschen den Hintern hinterhergetragen, war immer verlässlich und mein wirtschaftlicher Ruin war nun sein Dank?
Meine Glieder fühlen sich schwer an, als habe Hänschen mir Ketten mit schweren Metallkugeln angelegt.
Ganz klar, wenn ich das Sagen in der Firma hätte übernehmen können, dann wäre es nie soweit gekommen. Ich habe alle Fähigkeiten, bin ein Organisationstalent, beherrsche die Kommunikation mit den Kunden, Selbstdisziplin ist mein zweiter Vorname und nicht zu vergessen: Ich hätte Spaß daran gehabt.
Ich träumte schon als kleines Mädchen von meinem eigenen kleinen Laden in dem ich mich selbst verwirklichen konnte. Meine Eltern hatten mir stets davon abgeraten. Aber jetzt? Warum nicht? Das Kapital dazu habe ich und im Gegensatz zu Hänschen auch die Motivation!
Daheim angekommen, schnappe ich mir das Telefon:
„Guten Tag, Herr Erlenbach. Rita Homberg hier. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass ich kündigen werde.“-
Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen und lege breit grinsend auf.
Ich werde mich selbst verwirklichen! Und Erlenbach? Wenn er sich ernsthaft bemüht, stelle ich ihn vielleicht ein. Er wird bald einen Job brauchen …

Letzte Aktualisierung: 27.07.2010 - 19.54 Uhr
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